Allegra und Aktiverlebnis

Chur/Schweiz. Es gibt Reisen, die man mit gemischten Gefühlen antritt. Nicht wegen des Zieles, auf das die Vorfreude groß ist. Leichte Bedenken bereitet vielmehr die Anreise – und die Wahl des Transportmittels. Denn was verlockend klingt, kann seine Tücken haben: Sich bequem im Hamburger Hauptbahnhof betten, die Augen eine Nacht lang schließen – und am nächsten Morgen vom Alpenpanorama der winterlichen Schweiz, Bergen und Schnee geweckt zu werden. Aber ist dies auch mit knapp über zwei Metern Körperlänge so bequem wie es klingt?

Freitagabend kurz nach zwanzig Uhr rollt der City Night Line genannte Nachtzug mit Start in Altona im Hauptbahnhof Hamburg ein. Der freundliche Zugbegleiter begleitet mich zum Abteil – ein erster Schreck. Auf der nächtlichen Linie von der Elbmetropole die über Zürich jetzt im Winter direkt bis nach Chur im Herzen von Graubünden führt, verkehren moderne Doppelstockwagen. Und in „meinem“ unten gelegenen Abteil ist aufrechtes Stehen für mich unmöglich. Die Decke ist vielleicht 190 Zentimeter hoch, das Bett ebenso lang. Ob nicht eine Alternative zu finden sei ...? „Klar, kein Problem“, sagt Schaffner Christian Gislar und bietet mir eines der wenigen Abteile auf normaler Waggonhöhe an. Mit vier statt zwei Betten, aber glücklicherweise nicht belegt. Stehen ist hier möglich, etwas mehr Liegeplatz findet sich auch. Erfreut über das kleine Mehr an Komfort und nach einem kleinen Abendgespräch mit dem studierten Biologen Gislar, den es trotz Bacholorgrad „lieber in die Welt hinaus statt als Lehrer an eine Schweizer Schule“ zieht, döse ich schon vor Hannover ein.

 

Die Welt vorm Fenster

Acht Stunden später ist die Welt tatsächlich eine andere. Nachdem ersten Weckruf bei Basel und leichten Dehn- und Streckübungen vergeht die Zeit bis Zürich mit dem Bordfrühstück fast wie im Flug.

In der Schweizer Hauptstadt heißt es umsteigen, ehe es am tiefblau-spiegelnden Zürichsee entlang in nur noch knapp zwei Stunden bis Chur geht. Die 37.000 Einwohner große Hauptstadt von Graubünden ist das Herz des größten Kantons der Schweiz mit rund 200.000 Einwohnern. Und der einzige dreisprachige Kanton im Vielsprachenland: Deutsch und Italienisch spricht man hier – vor allem aber das seltene Rätoromanisch. „Bundi“ statt hallo oder sogar „Allegra“, wörtlich „freue dich“ grüßen die nur etwa 35.000 Schweizer, für die das in fünf Dialekten zerfallene „Gossenlatein“ heute noch Muttersprache ist sich ebenso wie weitgereiste Gäste.

Für die historische Altstadt von Chur rund um Ochsen- und Gänsemarkt bliebt wenig Zeit. Schließlich ist Chur zentraler Ausgangspunkt für die Bahnen der Region. Und Drehkreuz in einige der schönsten Winter- und Wintersportgebiete der Schweiz. Über eine der schönsten Bahnstrecken der Welt geht es weiter hinauf ins Oberengadin: Die 1903 vollendete Albualinie der Rhätischen Bahn führt über 62 spektakuläre Kilometer über mehr als 140 Brücken und durch 42 Tunnel hinauf nach St. Moritz. Ein Erlebnis, besonders bei der Fahrt in einem der gläsernen Aussichtswaggons des berühmten Glacierexpress, die auch hier regelmäßig eingesetzt werden.

 

Mit der Unesco-Bahn ins Skigebiet

Im strahlenden Sonnenschein erreicht die Schmalspurbahn, die seit 2008 zum Unesco-Welterbe zählt, St. Moritz. Anders als in der norddeutschen Tiefebene herrscht hier auf 1800 Metern Höhe wirklich Winter. Der St. Moritzersee, auf dem an den nächsten Wochenenden Poloturniere und „White turf“ genannte Pferderennen stattinden, ist zugefroren. Eineinhalb Meter und mehr Schnee bedecken den Wintersportort und seine Natur. Der 5000 Einwohner große Ort mit dem großen Ruf enttäuscht: Zwar wurde vor 150 Jahren in St. Moritz der Wintertourismus erfunden, doch prägt heute sachliche Architektur der 1970er- und 80er das Bild. Gleichwohl machen insgesamt elf Skigebiete bis in 3000 Meter Höhe mit 350 Pistenkilometern zu einem sicheren Schneesicheren Wintersportziel.

Man kann, aber man muss St. Moritz und das Oberengadin nicht rasant auf Skiern erleben. „Ich gehöre zu denen, die lieber im ruhigen Tempo durch unsere Natur gehen“, sagt Marco Salis. Der 66-Jährige macht regelmäßig Schneeschuhtouren durch die Föhrenwälder der weiten Seen- und Berglandschaft. Wir starten in Punt Muragl zu einer zweistündigen gemütlichen Genussrunde durch die Stille – kein Laut stört die weiße Idylle, in der ab und an Spuren von Wildtieren zu sehen sind. Sportlich ist Schneeschuhwandern auch, Kreislauf und Beine sind gefordert. Und wer sich nicht konzentriert, landet auch schon einmal unsanft im Tiefschnee. „Dann wird’s halt kühl, doch passieren kann so schnell nichts“, sagt Marco Salis. „Vor drei oder vier Jahren war Angela Merkel mit mir unterwegs – damals fiel sie auch. Eure Kanzlerin bekam einen kleinen Schreck. Aber ich half ihr auf und dann ging es weiter“, erinnert sich unser auch als Bergretter aktive Guide lachend.

Genuss bietet Graubünden auch abseits des Schnees. Neben der Bündner Nusstorte gehört das Bündnerfleisch zu den Spezialitäten der einst armen Bergregion. Heute arbeiten nur noch zwei Metzger im Engadin nach den traditionellen Rezepten ihrer Vorfahren und mit Hausschlachtung. Einer von ihnen ist Ludwig Hatecke in Scuol. „Für unser Fleisch verwenden wir nur Tiere, die lange auf der Alm geweidet haben“, sagt der 59-Jährige, dessen Urgroßvater aus Stade in die Schweiz kam. „Ihr Fleisch hat mehr gesunde Omega-3-Fettsäuren, mehr Vitamine und Mineralstoffe.“ Gesalzen und mit Gewürzen wie Wacholder verfeinert werden die beste Stücke dann gut drei Monate zum Trocknen in die Reifekammer gehängt – geräuchert wird Bündnerfleisch nicht. Anschließend hat das magere Fleisch nur noch zwei bis drei Prozent Fettanteil. Dass diese Qualität ihren Preis hat, weiß Hatecke: „Ich finde, wir sollten weniger Fleisch essen – aber bewusst gutes. Und dann nur ein oder zwei Mal pro Woche.“ Bei aller Langsamkeit geht auch Hatecke neue Wege: Nicht nur in einer Filiale in St. Moritz ist sein Bündnerfleisch erhältlich, ein Onlineshop macht die regionale Delikatesse weltweit erhältlich.

 

www.graubuenden.ch

www.engadin.stmoritz.ch