"Jeder Fall ist ein Einzelschicksal"

Der DRK-Suchdienst in der Hamburger Amandastraße
Der DRK-Suchdienst in der Hamburger Amandastraße

In Hamburg kümmert sich der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes wie derzeit bei der Ukraine-Krise um Suche und Zusammenführung von Familienangehörigen aus aller Welt –im April seit genau 70 Jahren. Die Krisenherde der Welt liegen in Hamburg-Altona gleich um die Ecke. In der Amandastraße, nur wenige Schritte von der Szenemeile Schulterblatt entfernt, erfahren die rund 80 Mitarbeiter vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) nahezu in Echtzeit, wo es rund um den Globus gerade brennt.

Hamburg. „Manchmal vergehen nur Stunden, in der Regel nur wenige Tage, ehe wir gefordert sind“, sagt Kirsten Bollin. Mit ihrem Team kümmert sich die Leiterin des DRK-Suchdienstes um schnelle, möglichst unbürokratische Hilfe in Krisenzeiten. „In den letzten Monaten gehören zu den Brennpunkten vor allem die Ukraine und die Krim“, so die gelernte Juristin Bollin.

Die aktuellen Unruheherde in Osteuropa gehören zu den derzeitigen Arbeitsschwerpunkten der Hamburger, wenn es um die Beratung von Flüchtlingen sowie um die Familienzusammenführung von Spätaussiedlern und Aussiedlern geht. „Hunderte Menschen flüchten vor der anhaltenden Gewalt oder haben den verständlichen Wunsch zu fliehen“, so Kirsten Bollin zur Lage vor Ort. Sie wendeten sich oft an das lokale DRK, dessen weltweites Netzwerk bekannt und vertrauenswürdig sei. Bollin: „Die Betroffenen in Städten wie Donezk oder auf der Krim können ja meist keine Botschaft erreichen, kein Visum oder eine andere Urkunde erhalten, schon gar keine beglaubigte – in Krisen, wie wir sie gerade in der Ukraine erleben, brechen Behördenstrukturen und Infrastruktur zusammen. Telefonleitungen und Handynetze sind gekappt.“

Die Flucht- und Ausreisemotive der Menschen reichten von persönlicher Angst bis hin zum Schutz der geliebten Söhne vor dem Militärdienst. Das Problem: Kriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände wie in der Ukraine oder im Irak und in Syrien, das seit dem vergangenen Sommer in den Fokus der Hilfsorganisationen gerückt ist, sind zwar für die Betroffenen subjektiv hart. Eine persönliche Verfolgung als Ausreisegrund liege aber offiziell in den seltensten Fällen vor. „Deshalb besteht unsere Arbeit zum großen Teil aus Rechtshilfe im in- und ausländischen Behördendschungel, in der Begleitung bei Behördengängen, Hilfe bei Aufenthaltsgenehmigungen, Nachzugsfragen und im Appell an Entscheider in Behören, ihren Ermessensspielraum zugunsten der Menschen zu nutzen“, weiß Bollin: „Wir legen oft ein gutes Wort ein, das hilft. Denn jeder Fall ist ein Einzelschicksal.“

Der Schwerpunkt des Hamburger Suchdienstes liegt auf der Zusammenführung der Familien von deutschstämmigen Aussiedlern und Spätaussiedlern aus Ost- und Südosteuropa. Dessen Höhepunkt lag um 1990 nach dem Zerfall der UdSSR und der GUS-Staat mit knapp 400.000 und fällt seitdem stetig. Der Hauptteil der internationalen Suchtätigkeit für Angehörige und Familien, die sich weltweit aus unterschiedlichen Gründen wie Kriegen, Naturkatastrophen oder der letzte Tsunami in Asien und anderen Unwägbarkeiten aus den Augen verloren haben, findet beim internationalen DRK-Suchdienst in München Ansprechpartner. Dennoch stehen immer wieder auch vor der Tür des grauen Bürogebäudes aus den 1950er Jahren in Hamburg verunsicherte und Hilfe suchende Menschen. Dies aber seien die wenigsten der rund 700 großen Fälle und 5000 Kurzberatungen, die in der Elbmetropole alljährlich zu klären sind. „Heute sind auch bei uns meist E-Mail, Internet und Telefon unsere Kommunikationskanäle – so sie in den Krisengebieten denn funktionieren“, so Bollin. Daran dass ihre Erfolge in den seltensten Fällen messbar sind, haben sich die Suchdienstler im Lauf der Jahre gewöhnt: „Findet ein Angehöriger seine Familie, teilt er uns das verständlicherweise meist nicht mehr mit“, so Bollin.

In diesem Jahr wird der DRK-Suchdienst 70 Jahre alt. Seine Anfänge liegen im Norddeutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs. Schon ab April 1945 kümmert sich in Flensburg der Suchdienst des DRK gemeinsam mit freiwilligen Engagierten des katholischen Caritasverbands und der Evangelischen Kirche um das Schicksal der Millionen entwurzelter und obdachloser Menschen, die in den großen Flüchtlingsströmen Heimat und Angehörige verloren haben. Noch im September desselben Jahres zieht die Suchdienst-Stelle als „DRK, Flüchtlingshilfswerk, Ermittlungsdienst, Zentrale-Suchkartei“ nach Hamburg um. Sie arbeitet fortan als „Zonen-Zentrale Hamburg“ für Norddeutschland weiter. Zeitgleich beginnt in München eine Zonen-Zentrale für den us-amerikanischen Sektor.

Die Suchdienstler sammeln Angaben und Daten von Gesuchten und Suchenden, Eltern, Kindern und verstreuten Verwandten. Anfangs noch amateurhaft und eher zufällig – aber immer nach klaren Zuordnungskriterien. „Unsere Datenbank arbeitet bis heute nach den damals entwickelten Familienstrukturen, quasi in Stammbäumen“, erzählt Kathrin Blankenburg, die den Bereich Familienzusammenführung leitet. „Das haben unsere Vorgänger wirklich gut entwickelt. So können wir immer wieder beispielsweise Suchenden helfen, die nur von bestimmten Familienangehörigen wie Großeltern oder entfernten Geschwistern wissen. Oft entdecken unsere Kollegen überraschende Bezüge – und bringen Menschen zusammen, die damit nie gerechnet hätten.“ Die umfangreiche Suchkartei mit rund 50 Millionen Einträgen und Anfängen in den 1940er Jahren steht nach einem Abstecher zur Digitalisierung nach München derzeit im Keller der Hamburger Suchdienstzentrale. Noch ist nicht entschieden, ob die Akten als Dokument der Zeitgeschichte ins Bundesarchiv oder ins Haus der Geschichte der Bundesrepublik nach Bonn wandert.

International gesucht ist aber das Know-how, das der DRK-Suchdienst sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte beim Auffinden von Familienangehörigen und deren Zusammenführung angeeignet hat. So war Kirsten Bollin mit einer Gruppe Suchdienstler kürzlich in Korea zu Gast, wo Nord- und Südkorea die deutsche Teilung als Vorbild für die geglückte Vernetzung von getrennten Familien sieht.

Ob der DRK-Suchdienst nach bald fast sieben Jahrzehnten eines Tages nicht mehr benötigt wird? Den Gedanken hat Kathrin Blankenburg längst aufgegeben: „Als ich Mitte der 1980er anfing, hieß es, unsere Aufgaben würden noch ein oder zwei Jahre benötigt.“ Es folgten der Fall der Mauer und seit 2008 erneut ein kriegsbedingter Anstieg an Flüchtlings- und Migrationsbewerbern aus Afghanistan, dem Nahen Osten und anderen Regionen. „Ich befürchte, dass uns die Arbeit so schnell nicht ausgeht“, sagt Blankenburg, „leider“.

 

www.drk-suchdienst.de

Kirsten Bollin, Leiterin DRK-Suchdienst Hamburg, rechts: Kathrin Blankenburg, Leiterin Fachbereich
Kirsten Bollin, Leiterin DRK-Suchdienst Hamburg, rechts: Kathrin Blankenburg, Leiterin Fachbereich