Das südfranzösische Carcassonne besitzt mit der Wasserstraße Canal du Midi und seiner mittelalterlichen Cité gleich zwei Unesco-Welterbestätten - eine Reportage
Carcassonne. Im Frühjahr wechselt Stéphanie Bourgain ihren Arbeitsplatz. Dann zieht es die Südfranzösin vom Schreibtisch in der Verwaltung ihrer Heimatstadt Carcasonne hinaus in den Hafen am Canal du Midi: Die 31-jährige ist in den Sommermonaten die einzige Hafenkapitänin am berühmten „Kanal des Südens“, der über rund 240 Kilometer Länge von Toulouse bis zum Mittelmeer bei Sète verläuft. Im 17. Jahrhundert von Ingenieur Pierre Paul Riquet als Schiffsverbindung zwischen Bordeaux und dem Atlantik sowie dem Mittelmeer für Waren- und Personenverkehr errichtet, um die Iberische Halbinsel zu vermeiden, gehört der Canal du Midi heute zu Frankreichs meist befahrenen Freizeitrevieren für Wassersportler – allen voran für Hausbootkapitäne mit Lust auf Entschleunigung.
„Bei uns in Carcassonne haben wir im vergangenen Jahr 3660 Boote begrüßt“, erinnert sich Stéphanie Bourgain, die sich über die internationale Atmosphäre in ihrem Hafen freut: „Die meisten Gäste kommen natürlich aus Frankreich, viele aber auch aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien.“ Insgesamt konnte sie 2014 als weltoffener Captain du Port nicht weniger als 48 verschiedene Nationalitäten in Carcassonne begrüßen. Durchschnittlich sind die Kanaltouristen mit einem gemieteten Hausboot eine Woche lang auf dem Unesco-Welterbe Canal du Midi unterwegs, um bei gemäßigtem Tempo von fünf oder sechs Stundenkilometern südländische Stimmung zwischen den berühmten Weinbergen von Languedoc-Roussillon, zahlreichen Burgen der in der Region starken Katharer und authentischen mittelalterlichen Orten wie Minerve oder Lagrasse mit der alten Abtei Sainte Marie d’Orbieu zu erleben. Und sich durch die noch gut 60 von einst 98 Schleusen hoch oder hinab schleusen zu lassen – je nach Fahrtrichtung.
Das etwa auf halbem Weg zwischen Toulouse und dem Mittelmeer gelegene Carcassonne – gegründet als keltische Siedlung Carcasso – selbst gehört mit seinen 50.000 Einwohnern zu den absoluten Höhepunkten einer Kanalfahrt. Das gilt auch, aber weniger für die schachbrettartig angelegte Unterstadt (fr. Bastide Saint Louis) die König Saint Louis im Jahr 1260 anlegen ließ – obwohl die südfranzösische Atmosphäre besonders an den drei Markttagen in der Woche auf dem Platz Carnot gelassen und entspannend wirkt. Carcassonnes eigentliches Herz aber ist die Cité Médiévale am rechten Ufer des Flusses Aude. Wir „erobern“ die auf mittelalterliche Oberstadt La Cité standesgemäß hoch zu Ross – hoch zu Stahlross und gemeinsam mit Fahrradguide und Stadtkenner Julien Chiron.
Wenige Minuten nur dauert die Fahrt vom Hafen über die acht Bögen der alten Aude-Brücke Pont Vieux und das alte Viertel Trivalle, ehe hoch über uns die imposanten Stadtmauern der Cité auftauchen. Hell strahlt Europas besterhaltene Festungsstadt in der morgendlichen Sonne: Mit ihren drei Kilometer langen, teils doppelten Befestigungsmauern und 52 Türmen bildet die Cité Mediéval (mehrere Bauphasen im 4. und 15. Jh.) ein vollständig erhaltenes Ensemble, das als Kulturgut der Menschheit seit 1997 zum Unesco-Welterbe gehört. Unsere Zeitreise beginnt mit dem Anstieg zur Porte d’Aude, dem mächtigen Stadttor auf der der Aude zugewandten Seite. Über kopfsteingepflasterte Gassen – Calade heißen die faszinierend vielfältig gemusterten Steinböden auf Französisch – führt uns Julien Chiron zunächst zum Chateau Comtal: „Das wehrhafte Schloss wurde im 12. Jahrhundert von den Vicomtes als Fluchtburg erbaut“, erzählt unser Begleiter. Heute beherbergt die Burg unter anderem das Musée Lapidaire mit bedeutenden Fundstücken aus wichtigen Epochen Carcassonnes. Weiter geht es durch die engen Gassen zur Kathedrale Saint Nazaire. Carcassonnes größtes Gotteshaus wurde 1270 vollendet. 200 Jahre Bauzeit zeugen vom Wandel des Geschmacks: Während das Hauptschiff romanisch ist, entstanden Querschiff und Chor bereits in der Gotik.
Eigentlich, verrät Stadtkenner Julien Chiron, ist das Carcassonne von heute eine Art Fata Morgana. Denn im 19. Jahrhundert lagen große Teile der einst mächtigen Festung nach Jahrhunderten der Bedeutungslosigkeit geplündert und vergessen in Trümmern. „Sogar ein Abriss galt als möglich“, sagt der 1976 geborene Chiron. Doch Staat und Geschichtskenner besannen sich eines Besseren und beauftragen den Architekten Eugène Viollet-le-Duc mit der Restaurierung des Ensembles. Der bekannte Denkmalpfleger rekonstruierte mit eigenen Zeichnungen detailreich die alte Cité – und schoss in vielen Fällen damit sogar über das Ziel hinaus. Dächer und Turmhauben ragen nun auf, wo ursprünglich keine waren. Pechnasen und Zinnen glänzen, wo blankes Mauerwerk war. Historismus pur also mit einem Hauch Kitsch. Und doch die perfekte Illusion eines mittelalterlichen Gesamtkunstwerks.
Heute leben nur noch rund 100 Einwohner fest in Carcassonnes mittelalterlicher Cité, die mit zwei Millionen Besucher im Jahr besonders in den Sommermonaten tagsüber oft überlaufen ist. Erst wenn am frühen Abend die letzten Touristenbusse die Stadt verlassen, kehrt Ruhe in Gassen und Plätzen ein. „Mein Tipp ist darum immer, entweder am frühen Morgen oder am Abend zu kommen“, verrät Julien Chiron. „Denn erst dann spürt man den alten Geist der Cité wirklich.“
Hintergrund:
„Land der Katharer“
Die südfranzösische Region Languedoc zwischen Carcassonne und dem Mittelmeer gilt als „Land der Katharer“ (fr. Pays Cathare). Überall erinnern vor allem in den Departments Aude und Hérault Hinweisschilder an jene Anhänger des Christentums, die sich im 13. Jh. von Rom und dem Papst lossagten. Hier – in der sichelförmigen Ebene zwischen den Bergen von Pyrenäen und Zentralmassiv mit Minervois und Corbières als Zentrum – fanden die strenggläubigen, asketisch lebenden und in weiten Teilen Europas verbreiteten Katharer besonders viele Anhänger. Burgen wie Montségur und Quéribus sowie Städte wie Albi der Katharer zeugen noch heute davon, dass die Glaubensgemeinschaft nirgendwo in Frankreich so deutliche Spuren hinterlassen hat wie hier. Von Papst und Kreuzzüglern als Ketzer verfolgt, zahlten hunderte Katharer in teils blutigen Gemetzeln ihre Überzeugung einer streng dualistischen Glaubenslehre von böse (Welt) und gut (Himmel) mit dem Leben. Heute führt der 200 km lange Wanderweg „Sentier Cathare“ vom Mittelmeer bis nach Foix.
Reiseinfo Carcassonne
Anreise:
Ab Deutschland Direktflüge nach Toulouse. Bei Germanwings ist ein Ticket Hamburg–Toulouse beispielsweise ab ca. 40 Euro buchbar. Für Reisen in der Region empfiehlt sich ein Mietwagen.
Air France verbindet Südfrankreich via Paris mit beispielsweise Montpellier oder Toulouse.
www.airfrance.de
Aktiv:
Radtouren mit Guide in und um Carcassonne:
Julien Chiron - www.generation-vtt.com
Übernachtung:
Das moderne Hotel Le Donjon liegt mitten in der historischen Altstadt von Carcasonne, der Cité. Doppelzimmer ab ca. 170 Euro.
Bootsvermieter auf dem Canal du Midi:
Le Boat
Locaboat Plaisance
Ideale Reisezeit: April bis Oktober
Diese Reportage auch auf www.reiseratte.de