Seit mehr als einem halben Jahrhundert hält der 83-jährige Heinrich Kersten im niederrheinischen Marien-Wallfahrtsort Kevelaer Prozessionen im Bild fest
Kevelaer. Wenn die Pilger kommen, beginnt für Heinrich Kersten eine Mischung aus Ritual und Routine. Fußwallfahrer empfängt der Fotograf schon zwei, drei Kilometer vor den Toren seiner Heimatstadt Kevelaer. Lichtet die lang gezogenen Gruppen mit seinem langen Teleobjektiv ab, fährt mit seinem Hollandrad schnell einige hundert Meter voraus und wiederholt alle Arbeitsschritte noch einmal. Damit auch wirklich jeder Pilger aufs Bild kommt. Für viele der Gläubigen, die einmal im Jahr aus nah und fern in den niederrheinischen Marien-Wallfahrtsort streben, gehört die Begrüßung durch den 83-jährigen Fotografen seit Jahrzehnten ebenso fest zur Kevelaer-Wallfahrt wie der Besuch der kleinen Gnadenkapelle im Ortszentrum.
Das gilt auch für die zahlreichen Bus- oder Bahnpilger, deren kürzere Prozessionen vom nahen Bahnhof oder Busparkplatz zum Kapellenplatz in der Innenstadt führen. Dann ist Kerstens Standort traditionell die schmale Hauptstraße, durch die die Pilger lang gereiht gen Basilika St. Marien streben – natürlich auch nicht, ohne fotografiert zu werden.
„Meine ersten Fotos von Pilgern und Prozessionen habe ich 1950 oder 1951 gemacht“, erinnert sich der 1930 geborene Kersten. „Damals holte mich mein Vater nach meiner Gesellenprüfung zum Fotografen und einer Ausbildung zum Werbegrafiker aus Düsseldorf, wo ich in einem Verlag tätig war, zurück nach Kevelaer.“ Der junge Kreative musste im wieder florierenden Familienunternehmen seiner Eltern mit Anpacken: Schon ab 1923-24 hatte Kerstens Vater nach einem Studium der Fotografie in München in Kevelaer Prozessionen abzulichten – mit den großen Fotoapparaten von damals und Platten, die bis zu vierzig Pilger auf Glas bannten.
Eine Geschäftsidee, die bei den weit gereisten Gläubigen aus Münsterland, Ruhrgebiet, aber auch aus dem Raum Aachen, Trier und Köln sowie aus Holland und Belgien schnell Anklang fand: Ein eigenes Foto war das perfekte Andenken an die jährliche Pilgerfahrt nach Kevelaer, dessen Ursprünge auf Hendrick Busman zurückgehen. Der Handelsreisende hörte 1641 der Legende nach auf einer seiner Fahrten durch die niederrheinische Heide an der Stelle des heutigen Wallfahrtsortes eine Stimme, die ihm zurief: „An dieser Stelle sollte du mir ein Kapellchen bauen.“ Schon 1642 war es soweit. Der fromme Busman begründete eine bis heute anhaltende Tradition, die das kleine Kevelaer zu einem der bekanntesten Marienwallfahrtsorte Europas machte, in dem in der Saison zwischen Mai und Allerheiligen ein internationales Stimmengewirr herrscht. Heinrich Kerstens Vater indessen machten die lokalen Beamten die Tätigkeit als Prozessionsfotograf nicht gerade leicht: „Der Gemeinderat fasste den Beschluss, dass keine Geschäfte auf der Straße gemacht werden durften – Stativ und Kamera mussten darum hinter Toröffnungen versteckt werden.“
Bis etwa 1937 fotografierte Kersten-Senior – dessen Vater bereits im 19. Jahrhundert als einer der ersten Fotografen begonnen hatte – Pilger, erinnert sich Heinrich Kersten beim Gespräch im backsteinernen Familienhaus, das in der Kevelaerer Marienstraße nur wenige Schritte entfernt von Kapellenplatz und Basilika liegt. Ab 1938/39 blieben nach einem Verbot der Nationalsozialisten Pilgergruppen aus. Viele Gemeinden konnten nur mit Hilfe als „privater“ Ausflüge getarnter Besuche von Gläubigen ihre durchgehende Tradition der Kevelaer-Wallfahrt aufrecht halten. Doch schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg wollten Menschen ihr Leid und ihre Bitten wieder zur Gottesmutter nach Kevelaer tragen. „Als erste kamen meiner Erinnerung nach 1946 die Pilger aus dem holländischen Amersfoort wieder hierher“, sagt der Katholik Kersten. „Und 1950 haben wir unsere Arbeit als Prozessionsfotografen wieder aufgenommen. Mit Erlaubnis der Behörden endlich auch offiziell und sichtbar auf der Straße“, lacht Kersten.
Ab da entwickelten sich Technik und Erfolg rasch. Statt mit schweren Glasplatten fotografierte der junge Fotograf mit einer Leica-Kleinbildkamera. Diese war leicht und flexibel im Einsatz. Mit wachsender Pilgerzahl waren es bald zwei, bald noch mehr Fotoapparate. Schüler aus der Oberstufe und andere Mitarbeiter halfen nicht nur, die Gläubigen zu fotografieren. Sie kümmerten sich auch um die sofortige Entwicklung der Filme und das Abziehen der Fotos. Schnelligkeit war schon zur Blütezeit der Prozessionen von den 1950er bis in die 1970er Jahre ein Verkaufsargument, sagt Kersten: „Viele Pilger blieben nur eine Nacht. Da musste ein Foto sofort verfügbar und zu kaufen sein.“ Zur Werbung diente damals wie heute ein Torbogen vis-à-vis der Marienkapelle – dort müssen Pilger und Pilgerinnen zwangsläufig vorbei. Vier Mark kostete ein Bild zum Ende der D-Mark-Zeit. Heute sind es drei Euro.
Anders als damals sind Kerstens Prozessionsfotos nicht mehr schwarz-weiß. Seit 2007 arbeitet der erfahrene Profi mit Digitalkamera und Farbe. Wie viele Pilger er festgehalten hat? Kersten zuckt die Schultern: „Sicher Hunderttausende. Aber gezählt habe ich sie nicht.“ Ebenso viele Fotos dürften im Archiv des Niederrheiners schlummern. Doch ihre Zeit ist begrenzt: Die Glasplatten aus den 190ern und 30ern schmolzen im Krieg durch Brandschäden. Und die Negative der Folgejahre halten in der Regel nur drei bis vier Jahre, so Kersten: „Wir mussten ja schnell sein. Darum wurden die Filme nicht entwässert. Sie zersetzen sich chemisch.“ Selbst die Abzüge überdauern nicht und verkleben rasch. Anfragen von Pilgern nach Motiven „von früher“ sind deshalb meist kaum positiv zu beantworten. Nur selten kann Kersten helfen.
Lebendig erhalten können die Tradition der Wallfahrten darum nur die Gläubigen selbst. Doch es kommen immer weniger Pilger, beobachtet Kersten: „Einen richtigen Einbruch gab es vor etwa zwanzig Jahren. Damals wurden die ersten Gemeinden zusammengelegt. Viele haben keinen Pfarrer mehr – da fehlen dann Halt und Motivation. Manche kommen gar nicht mehr. Andere wie Bruderschaften oder Mütter- bzw. jetzt Frauenvereine nur noch einen kurzen Tag in der Woche.“ Dennoch freut sich Kersten auch heute noch über Fußpilgergruppen wie die Gruppe aus Bocholt, die Jahr für Jahr mit bis zu 1000 Teilnehmern die größte ihrer Art bildet.
Um die Zukunft des Wallfahrtsortes Kevelaer ist dem Familienvater deshalb nicht bang. Und seine eigene und die Tradition der Prozessionsfotografie? Kerstens Kinder aus erster Ehe sind fortgezogen und haben andere Berufe gewählt. Die jüngere Tochter und ein Sohn studieren noch – in die Fußstapfen als Fotografen treten auch sie wohl nicht. Zumindest die Pilgersaison 2014 will Heinrich Kersten aber selbst noch fotografisch begleiten: Fotopapier hat er in ausreichender Menge schon gekauft. Und später?! „Ich kann keinem raten, das als Beruf zum Geldverdienen machen zu wollen. Das ist heute eher etwas für einen rüstigen Rentner“, lacht Kersten. Doch noch ist Kersten selbst rüstig genug.
Dieses Porträt entstand im Februar 2014