Marl. Manchmal bieten die unverhofften Stopps die Gelegenheit für die besten, weil unerwarteteten und unverstellten Eindrücke. So wie unser zweistündiger Aufenthalt in Marl am Nordrand des Ruhrgebiets Ende Dezember. Bekannt ist Marl den meisten allenfalls als Sitz des Grimme-Instituts, das alljährlich die renommierten Fernsehpreise vergibt. Und Fans des Hamburger SV vielleicht als Heimat von HSV-Stürmer Pierre-Michel Lasogga. Doch hier, wo erst vor wenigen Wochen mit der Zeche Auguste Victoria eines der letzten Bergwerke Deutschlands geschlossen hat, lassen sich echte Zeitreisen machen: Wer den Stadtteil Brassert erkundet, entdeckt die Aufbruchszeit des Ruhrgebiets um 1900 mit alten Zechenarealen und Zechensiedlungen. Und das Zentrum von Marl gleicht einem lebendigen Museum für "futuristische" Architektur der 1960er und 1970er Jahre – Zeiten der Moderne, großer Ideen und des Aufbruchs.
Das heutige Marl ist eine Zusammenlegung einst freier Dörfer und besaß deshalb keine eigene Mitte. Erst ab Anfang der 1960er Jahre entstand die neue, künstliche City – mit Hochhäusern, Rathaus und großen Straßen als Teil einer "autogerechten Stadt" der Zukunft. Die grotesken Dimensionen wurden längst zurückgebaut. Doch leider ist vieles von dem, was damals mit viel Geld und Verve geplant und realisiert wurde, heute immer noch viel zu groß für die klamme Kommue Marl. Entsprechend schlecht zeigt sich der bauliche Zustand. Schade. Dies gilt nicht nur für das Einkaufscenter "Marler Stern", in dem auch die freundliche Touristeninformation liegt – die man erst einmal finden muss ... –, sondern auch für das eigentlich sehenswerte Rathaus. Die beiden Türme der holländischen Architekten van den Broek und Jacob Bakema entstanden nach einem internationalen Wettbewerb zwischen 1960 bis 1967. In ihrem Schatten liegt der Sitzungstrakt mit einem übergroßen Spannbetondach. Unter ihm das Skulpturenmuseum "Der Glaskasten" - benannt nach seiner Rundumverglasung. Marl ist stolz auf seine Skulpturen hier (darunter Werke von Größen wie Auguste Rodin und Alberto Giacometti) und die rund 70 Skulpturen rundum im öffentlichen Raum – doch leider ist deren baulicher Zustand mindestens so schlecht wie der von Rathaus und Einkaufscenter nebenan.
Wer die 1960er und 70er noch kennt, fühlt sich zurückgebeamt. Fast läuft ein Schauer des (Wieder-)Erkennens beim Gang durch Marl über den eigenen Rücken. Wer die Zeit vor 30, 40 Jahren nicht selbst miterlebt hat: In Marl bietet sich Gelegenheit, einen Hauch der westdeutschen Aufbruchseuphorie kurz vor der Ölkrise zu spüren. Eigentlich müsste man den Stadtkern von Marl samt angrenzender Schwimmhalle im Verfallszustand schnell komplett unter Denkmalschutz stellen – und renovieren.
Ein erfreulicher Kontrapunkt ist übrigens das international bekannte Grimme-Institut, das in der alten "Insel" zuhause ist. Der filigrane Bau aus den 1950er Jahren wirkt leicht und lichtdurchflutet.
Darum mein Tipp: Man müsste mal nach Marl fahren!