REPORTAGE und HINTERGRUND Oświęcim. Dann wird es plötzlich still. Konzentriert. Fast andächtig. Gerade noch hat unsere Besuchergruppe sich am Museumseingang intensiv ausgetauscht und sich ums Praktische gekümmert, Kopfhörer angepasst und die Lautstärke am kleinen Empfangsgerät eingestellt. Nur wenige Schritte am Elektrozaun vorbei, dann ist eines der zynischsten Symbole der Nationalsozialismus erreicht: Durch das Tor mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ geht es ins NS-Lager Auschwitz. Genau 75 Jahre ist es heute her, dass die Rote Armee das sogenannte Stammlager und das rund drei Kilometer entfernte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auf ihrem Weg nach Westen befreiten. Der Wintertag war kälter als dieser Morgen in der vergangenen Januarwoche – und den russischen Soldaten der 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front bot sich ein schrecklicher Anblick, der sich am Ort des Grauens kaum nachvollziehen lässt: etwa 7500 jüdische Häftlinge harren noch im Vernichtungslager aus, ihr Zustand ist schlecht, lebensbedrohlich. Viele sind zu kraftlos, um sich zu freuen. Um Spuren zu verwischen, töteten die SS-Wachhabenden noch in den letzten Tagen von Auschwitz zehntausende Juden und sprengten Gaskammern und Krematorien.
Heute, genau eine Generation später, lässt allein die bekannte Zahl der im polnisch Oświęcim genannten Auschwitz Ermordeten deutsche und internationale Gäste der Gedenkstätte erschauern: Mehr als 1,1 Millionen, vermutlich bis zu 1,5 Millionen Menschen starben in Auschwitz zwischen 1940 und 1945. Darunter 1,1 Millionen Juden aus ganz Europa, etwa 150.000 Polen, 23.000 Roma und Sinti sowie zehntausende Kriegsgefangene. Vielleicht ist es die Tatsache, diese schiere Dimension des Völkermords am Ort des Geschehens zu erfahren, die die Besucher unserer Führung, aber auch die der rasch folgenden Gruppe sichtlich still werden lässt. Besucher folgen auf Besucher, teils individuell, die meisten gemeinsam – die in der Regel dreieinhalbstündigen Touren werden in zwanzig Sprachen angeboten. Rechte Provokationen oder ironisch-zynische Kommentare, von denen immer mehr NS-Gedenkstätten berichten, bleiben aus. Auch bei jüngeren Besuchern. Schülerinnen und Schüler einer Klasse aus Nordrhein-Westfalen, die tags zuvor noch jugendlich-ungestüm im rund fünfzig Kilometer entfernten Krakau im Feiermodus waren, werden stumm und nachdenklich.
Kleine Zeichen, die Hoffnung für die Zukunft machen. Denn in wenigen Jahren werden die letzten Überlebenden und Zeitzeugen – auf Opfer- Täterseite – nicht mehr da sein, um Zeugnis abzulegen. Dann bleiben nur die Berichte der Shoah und die Gedenkstätten, wie das schon 1947 eröffnete Museum von Auschwitz. Das 192 Hektar große Areal des zunächst ab 1940 als Kriegsgefangene aus dem besetzten Polen gedachte Lager Auschwitz I sowie das ab Ende 1941 entstandene Außenlager Birkenau – das schon ab 1942 zur Todesfabrik für 5000 und mehr Jüdinnen und Juden am Tag wurde, mit Gaskammern und Krematorien, in denen achtzig Prozent der Neuankömmlinge unmittelbar nach ihrem Eintreffen den Tod fanden – umfasst rund 150 Gebäude von der Baracke bis zu SS-Unterkünften und 300 Ruinen. Auch das Torhaus, durch das die Züge der Deportierten Auschwitz-Birkenau erreichten, gehört dazu. Dass der ganze Lagerkomplex seit 1979 zum Unesco-Welterbe gehört, ist für uns Nachgebliebene eine Verpflichtung mehr, die Erinnerung zu bewahren und Holocaustleugnern zu widerstehen. Wir dürfen nie vergessen, was Auschwitz-Überlebende wie der im April 1944 aus Thessaloniki eingelieferte Leon Cohen mit der Häftlingsnummer 182494 zu Protokoll gab: „Auschwitz war die Tragödie meines Lebens. Die Erinnerungen kommen immer wieder.“
Dass das Interesse am Gedenken wächst, belegen die steigenden Besucherzahlen der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: Rund 2,15 Millionen Gäste haben das einstige Vernichtungslager – das die Nazis ab November 1944 verließen, als auch die Todesmärsche der Häftlinge nach Westen beginnen – besuchten Auschwitz-Birkenau 2018. Dies waren noch einmal 50.000 mehr als im Jahr davor. Mehr als drei Viertel von ihnen kamen aus dem Ausland. Dass deutsche Besucher nach Polen, Briten, Amerikanern, Italienern und Spaniern erst an sechster Stelle stehen, gibt gleichwohl zu denken. Zumal es mit 76.000 rund 9000 weniger waren als noch 2017. Das Vergessen darf gerade im Land der Täter nicht schwinden, gerade jetzt, wo die, die noch berichten können, immer weniger werden. Laut einer aktuellen Umfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) haben 43 Prozent der Deutschen schon heute ihr Wissen über den Völkermord an den europäischen Juden aus Filmen, Büchern und anderen Medien. Die Schule ist bei 37 Prozent die Hauptquelle des Wissens.
Dass nicht weniger als 22 Prozent in einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut YouGov laut dpa angeben, das Holocaust-Gedenken nehmen im Vergleich zu anderen Themen zu viel Raum ein, sollte mehr als nur zu Denken geben. Josef Schuster stellte nicht zu Unrecht vor einigen Tagen fest, dass immer mehr Menschen unter Nazi-Zeit und -Verbrechen gern einen Schlussstrich ziehen möchten, um in ihrer Komfortzone zu bleiben. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und den Mord an Millionen wachzuhalten und an Jugendliche zu vermitteln sei eine „monströse Aufgabe“. Den heutigen 27. Januar als Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen, kann ein Schritt dazu sein. Heute – vor allem aber in Zukunft.
Hintergründe und Anmeldung für die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: