Von Christoph Schumann
Reportage. Bad Rothenfelde. Irgendwann stürzte Bad Rothenfeldes größte Attraktion dann einfach ein. Ob ein tieffliegender Militärjet oder doch nur kräftiger Wind die Ursache für den Teileinsturz des mehr als 200 Jahre zuvor aus Holz errichteten Alten Gradierwerks im Jahr 1989 war, konnte nie abschließend geklärt werden. Wichtig aber war der Wille zum Neuanfang. „Und den hatten alle hier im Ort“, erzählt Hans-Peter Fröbel beim Rundgang zu dem ursprünglich zur Salzgewinnung errichteten 175 Meter langen Meisterwerk der Handwerkskunst, an dessen Kopfende seit den 1930er Jahren ein Hochbehälter in Bauhausarchitektur steht. 1724 nämlich wurde in 3000 Metern Tiefe unter dem heutigen Kurort ein Salzstock des sogenannten Zechsteinmeeres entdeckt, der bis heute Quellsole liefert. Bis zur Schließung des lokalen Salzwerks 1969 diente das erste Gradierwerk ebenso wie das gleich gegenüber liegende Neue Gradierwerk ausschließlich industriellen Zwecken und der Erhöhung des Salzanteils von fünf auf fünfundzwanzig Prozent für den florierenden Salinenbetrieb.
„Heute hingegen sind unsere Gradierwerke Gesundheitsförderer“, sagt Hans-Peter Fröbel vom Förderverein zum Erhalt der Bad Rothenfelder Gradierwerke e.V. weiter. „Denn noch in zweihundert Metern Entfernung sorgt ein feiner Solenebel für klar Luft. Die Aerosole erfreuen die Atemwege, nicht nur von Pollenallergikern“, so der aus Ostfriesland stammende Fröbel. „Und anders als am Meer kann man bei uns die quasi über Jahrmillionen konservierte Seeluft mit einem Spaziergang durch Rosengarten oder Kurpark verbinden.“ Den heilsamen Effekt beim Gang oder Jogging rund um das nach seinem Wiederaufbau 1996 noch rund 112 Meter lange Alte und das 412 Meter lange Neue Gradierwerk genießen nicht nur Patienten der verschiedenen Rothenfelder Kliniken, sondern vor allem an Sonntagen auch Ausflügler aus Nah und Fern. Schon das zehn Meter hohe Alte Gradierwerk mit seinen mehr als 3000 Quadratmetern Rieselfläche beeindruckt. Doch echte Rekorde sichert dem 8000 Einwohner großen Heilbad das Neue Gradwerk: Mit knapp 8300 Quadratmetern Rieselfläche ist es nicht nur das größte Gradierwerk Westeuropas – „gleichzeitig ist es weltweit das einzige seiner Art, das ohne Außenstützen errichtet wurde“, weiß Fröbel, der Gästen bei Führungen durch das Innere über 54 Stufen hinauf zur Bsucherplattform mit dem als Pumpe dienenden Windrad, der Windkunst, begleitet. Übrigens dient das konzentrierte Salzwasser aus Rothenfeldes Tiefen nicht nur den Atemwegen – die Sole garantiert auch in der Therme carpesol, dem Sole-Freibad oder einigen Hotelthermen warmes Badevergnügen.
Diese Mischung aus alt und neu lebt Bad Rothenfelde vielerorts. Eines der jüngsten Beispiele dafür ist das „Siedehaus“ im Herzen des Kurortes. Erst Ende letzten Jahres haben Küchenchef Philipp Beiersdorf und sein Team ihre Türen für Gäste geöffnet, doch schon wenige Wochen später gehört das modern großstädtisch-international eingerichtete Restaurant mit seiner offenen Bar zu den beliebtesten Treffpunkten von Einheimischen und Touristen. Sie genießen den Blick auf das Alte Gradierwerk, das man von den meisten Tischen aus hat – und Gaumenfreuden, die klassische Gerichte in modernem Gewand liefern. „Im Grunde koche ich so, wie man es hier seit Generationen tut“, sagt Philipp Beiersdorf lachend. Nicht einmal drei Monate vergingen, bis der 23-Jährige die Chance ergriff, die Räume eines früheren China-Restaurants in ein zeitgemäßes Ambiente zu verwandeln, in denen ein auffallend junges Team mit Enthusiasmus und viel Spaß am Service seine Heimat neu erfindet. Denn tatsächlich stammen alle „Siedehäuser“ wie Beiersdorf selbst aus Bad Rothenfelde oder seiner Umgebung: „Es ist doch toll hier. Und das möchte ich meinen Gästen mit einer traditionellen, aber gleichzeitig jungen deutschen Küche auch vermitteln. Ich möchte hier etwas verändern.“ Auf der Speisekarte finden sich folglich Klassiker wie Grünkohl mit Bratkartoffeln und Mettenden oder Winterkabeljau auf Lauchrisotto.
„Aber es gibt auch Leber oder Zunge – Gerichte wie bei Oma, die man andernorts vielleicht vergeblich sucht“, sagt der engagierte Beiersdorf zu seinem Konzept. Alle Zutaten kommen dabei soweit wie möglich aus der Region und von Bauern, die Beiersdorf persönlich kennt: „Nur so stimmen Herkunft und Qualität.“ Dass sich das Angebot im „Siedehaus“ und alle Gerichte auch nach der Jahreszeit richten, versteht sich dabei fast von selbst. „Denn wir wollen uns ja auch verändern“, sagt Beiersdorf. Und sich immer wieder neu erfinden. So wie der ganze Kurort Bad Rothenfelde auch.
Meine Reisetipps Bad Rothenfelde
Bad Rothenfelde liegt zwischen Osnabrück und Bielefeld im Teutoburger Wald. Erreichbar ist das Heilbad mit dem Pkw ab z.B. über Bielefeld oder Osnabrück. Bahnreisende müssen meist bis Osnabrück fahren und dort nach Dissen/Bad Rothenfelde umsteigen.
Kontakt: Kur und Touristik Bad Rothenfelde GmbH, Am Kurpark 12, 49214 Bad Rothenfelde, Tel. 05424/2218-0, www.bad-rothenfelde.de
Essen und Trinken:
Das Restaurant Siedehaus um den jungen Chefkoch Philipp Beiersdorf bietet klassische deutsche Küche im modernen Gewand. Salinenstr. 2–6, Tel. 05424/8005805. www.siedehaus.de
Im Café COEUR’chen serviert das deutsch-französische Paar Stefanie Feldhaus-Moriani und Stanislas Moriani französische Kuchen, aber auch original französische Brasserie-Küche. Bahnhofstraße 15, Tel. 05424/8005800, www.coeurchen.com
Therme:
Die Therme carpesol und das Sole-Freibad werden teils mit dem mineralhaltigen Wasser aus den Tiefen des Teutoburger Waldes gespeist. Ganzjährig 33°C warme Sole, Sauna u.a., www.carpesol.de
Hoteltipp:
Zentral gelegen zu Kurpark, Gradierwerk oder Therme ist das in vierter Generation geführte Hotel Drei Birken mit eigenem Wellnessbereich und Anwendungen. DZ ab ca. 72 Euro. Birkenstr. 3, Tel. 05424 6420, www.hotel-drei-birken.de
Veranstaltungstipp:
Alle drei Jahre werden die Dornenwände der beiden Gradierwerke zur größten Leinwand der Welt: Im Rahmen der „lichtsicht“ genannten Kunstaktion zeigen projizieren internationale Künstler ihre Videoarbeiten auf die Dornenwände. Die „lichtsicht 7“ findet vom 23. Oktober 2020 bis 21. Februar 2021 statt. www.lichtsicht-biennale.de
Stand der Angaben: Herbst 2020