Die Seekarten der Zukunft – ein Besuch beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg

Thomas Dehling, Abteilungsleiter am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie auf dem Balkon seines Büros in Hamburg-St. Pauli. Foto: Christoph Schumann, 2024
Thomas Dehling, Abteilungsleiter am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie auf dem Balkon seines Büros in Hamburg-St. Pauli. Foto: Christoph Schumann, 2024

REPORTAGE

Hamburg (cs). „Für uns ist es wie übermorgen.“ Wenn Thomas Dehling in seinem Büro an der Bernhard-Nocht-Straße in diesen Wochen an sein wichtigstes Projekt denkt, ist dem Abteilungsleiter für Nautische Hydrographie ein kleines Zögern anzumerken. Und ein wenig auch der Druck, der auf dem 60-Jährigen und seinem Team lastet, bis Anfang 2026 eines der bislang größten Vorhaben des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) umzusetzen: die Entwicklung und Bereitstellung einer neuen Generation von elektronischen Seekarten. „Die aktuellen Karten, die wir für Berufsschiffer und Freizeitkapitäne bereitstellen, ist rund fünfundzwanzig Jahre alt“, sagt der Ingenieur für Vermessungswesen. „Und damit längst zu alt und ungenau für die Anforderungen, die die zunehmend komplexe Schifffahrt heute zu bewältigen hat.“

Das Ziel dieser Seekarten der Zukunft nach dem internationalen Standard „S100“ sind vor allem genauere Tiefenangaben, die mehr Detailinformationen liefern als bislang. Liegen heute etwa an Küsten die bereitgestellten Daten zur Meerestiefe beispielsweise bei zehn Metern, sollen sie schon in eineinhalb Jahren bei sieben oder sogar fünf Metern Genauigkeit liegen. Den Vorteil höherer Präzision bringt Thomas Dehling auf zwei Punkte: „Exaktere Tiefenangaben erlauben den Schiffsführern zum einen eine viel sichere, aber auch eine effizientere Navigation.“ Und damit das Einsparen von Treibstoff durch das genauere Befahren günstiger Routen. „Das Neue, fast Revolutionäre wird sein, dass digitale Seekarten schon bald neben der Tiefe auch aktuelle Daten zu Strömungen, zur Tide, aber auch zum Wetter liefern werden“, so Dehling. „Das hilft besonders den großen Reedereien, Fahrpläne und Routen vorauszuberechnen, sparsamer und damit CO2-effizienter zu fahren und auch Liegezeiten zu reduzieren.“ Effizienz, die gerade in der Berufsschifffahrt Tag für Tag Kosten sparen kann.

 

Der erste Schritt ist schon gemacht

Einen ersten Zwischenschritt ist das BSH bei der Bereitstellung neuer Seekarten kürzlich schon gegangen. Thomas Dehling dazu: „Weil wir in den letzten Jahren aus der Schifffahrtsbranche regelmäßig gefragt wurden, ob wir die höhere Auflösung des Tiefenbildes nicht schon vor 2026 in die elektronischen Seekarten einarbeiten können, haben wir dem Wunsch entsprochen.“ Als erste neue Karte liegt das Revier des Rostocker Hafens vor – neben Hamburg-St. Pauli an drei Tagen in der Woche der zweite Arbeitsplatz des gebürtigen Niedersachsen und seiner Behörde BSH. Weitere Gebiete folgen kontinuierlich, darunter etwa die Lübecker Bucht oder die Kieler Förde. Der Ostseeraum bildet mit insgesamt neun Anrainerstaaten die Beispielregion für die grundlegenden Daten der kommenden Navigationssysteme. Von Dänemark und Polen bis Finnland und den baltischen Staaten sind alle Länder dabei – nur Russland ist aufgrund der derzeitigen Lage kein Kooperationspartner und wird dies voraussichtlich noch lange bleiben.

Mehr Sicherheit an Bord: Die neuen Seekarten zeigen genauere Tiefenprofile an, sodass z.B. Containerschiffe (grau) mehr Fläche zum Navigieren haben als zuvor. Foto: Christoph Schumann, 2024
Mehr Sicherheit an Bord: Die neuen Seekarten zeigen genauere Tiefenprofile an, sodass z.B. Containerschiffe (grau) mehr Fläche zum Navigieren haben als zuvor. Foto: Christoph Schumann, 2024

Mehr Details, mehr Sicherheit und Effizienz

Vorteil des neuen Systems: Anders als bislang fließen neue Daten aus der Vermessung direkt in die neuen elektronischen Seekarten mit hoher Dichte – offiziell HD ENC genannt – ein. „Bei den bisherigen Produkten werden die aktualisierten Daten immer zeitgleich mit den Papierseekarten aktualisiert. Elektronisch geht dies aber schneller. Seeleute erhalten künftig mit den HD ENC also schneller aktuelle Navigationsdaten“, skizziert Dehling. Hauptmerkmal der neuen HD-ENC-Karten sind die wesentlich detaillierteren Tiefenangaben in höherer Auflösung und mit Tiefenlinien dann sogar in 1-m-Abständen statt wie bislang in 5-m-Abständen, was besonders beim Befahren küstennaher Gebiete einen höheren Sicherheitsgrad ermöglicht. Allein an deutschen Küsten betrifft dies eine Fläche von 56.000 Quadratkilometern – zu Wasser und zu Land. „Denn wir wollen den Seeleuten aus Sicherheitsgründen dann auch Informationen zur küstennahen Bebauung und Landschaft mitliefern“, sagt Thomas Dehling.

 

Daten per Satellit und Forschungsschiff

Geliefert werden die Daten sozusagen in Echtzeit zum einen per Satellit aus dem Weltraum. Zum anderen sind für die Tiefendaten von Ostsee und Nordsee die fünf Forschungsschiffe des BSH im Einsatz. „Atair“, „Komet“, „Capella“, „Wega“ und „Deneb“ untersuchen zum einen die Geologie des Meeresbodens und von Unterewasserhindernissen – damit zum Beispiels Wracks und andere Gefahren wie gesunkene Container verortet werden können. Darüber hinaus sammeln die Schiffsbesatzungen ozeanographische Daten wie Temperatur, Salzgehalt und Strömung sowie solche zu Eisgang. „So kommen gewaltige Datenmengen zusammen“, weiß Experte Dehling. „Wir sprechen da von Big Data.“ Doch ohne Daten und immer mehr Daten geht auch in der Schifffahrt heute wenig: Elektronische Navigation spielt bei zunehmendem Schiffsverkehr auf vielbefahren Seegebieten und Wasserstraßen eine immer wichtigere Rolle, besonders im Hinblick auf Sicherheit. Und allein die Welthandelsflotte ist riesig: Zwischen Nordatlantik und Südsee sind knapp 18.400 Ro-Ro/Stückgutschiffe, 13.400 Massengutschiffe und allein 8.400 Rohöltanker unterwegs. Hinzu kommen etwa 5.500 Containerschiffe und andere Fahrzeuge. Und nicht zuletzt Millionen an Sportbooten. (Angaben von 2023)

Wenn bis zum Frühjahr 2026 die neuen elektronischen Daten des BSH vorliegen, beginnt eine dreijährige Erprobungsphase. In dieser sollen alle Anrainer die neuen Seekarten nach „S100“ sowie „S101“ und „S102“ (s. Beispielgrafik) zur Verfügung gestellt haben und gemeinsam in der Praxis erproben. Die Europäische Union fördert das Projekt. „Die Ostsee ist ein ideales Testfeld“, weiß Thomas Dehling. „Denn wir nutzen jetzt schon mit dem Navigationssystem Baltic Sea e-Nav einen Standard.“ 2029 sollen dann Erfahrungen vorliegen, die weitere Verbesserungen bringen könnten. Im Anschluss an das Ostseeprojekt soll der detailliertere Seekarten-Standard „S100“ dann von der Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) in London zur globalen Vorgabe gemacht werden. „Aber bis alle rund einhundert Küstenstaaten weltweit soweit sind, wird es sicher noch dauern“, schätzt Dehling. Der BSH-Experte rechnet mit einer Übergangsphase von zehn bis fünfzehn Jahren, ehe alle Länder so weit sind wie die Ostseestaaten in spätestens drei Jahren.

 

HINTERGRUND

Schifffahrt erhält detaillierten Blick zum genaueren Navigieren

Der nautische Informationsdienst des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) veröffentlicht elektronische Seekartenprodukte gemäß den Standards der Internationalen Hydrographischen Organisation (IHO), die ihren Sitz in Monaco hat. Diese Produkte entsprechen einem spezifischen Regelwerk und werden vom BSH in elektronischer Form bereitgestellt. Die neuen HD ENC bieten ein deutlich exakteres Tiefenbild und deutlich exaktere Tiefenlinien, nämlich alle volle Meter statt nur alle fünf Meter. Dadurch ist der Navigationsraum detaillierter abgebildet und deshalb für die Schifffahrt besser nutzbar. Die immer größeren Schiffe brauchen in der vielbefahrenen Nordsee und besonders auch Ostsee möglichst viel Raum zum Navigieren.

 

 

Stand meiner Recherchen und Reportage: Sommer 2024. Copyright: Christoph Schumann, Hamburg