REPORTAGE Sønderborg. „Von dort drüben griffen die Preußen an.“ Mit weit ausholendem Arm zeigt René Rasmussen von unserem Standort bei Dybbøl über das Meer aufs jenseitige Ufer bei Vemmingbund. Wo damals Militär stand, sind heute in der Ferne Ferienhäuser zu erkennen. Rund fünf Wochen hatten die Armee unter Generalstabsoffizier Prinz Friedrich Karl die zehn Schanzen unweit der weit leuchtenden Mühle von Dybbøl schon belagert, die den Alssund und das gegenüberliegende Sønderborg sichern sollen. In den frühen Morgenstunden des 18. April 1864 bezogen die preußischen Sturmkolonnen ihre nur zweihundert Meter entfernten Stellungen. Ihr Angriff auf die dänischen Soldaten erfolgte gegen zehn Uhr. 37.000 Männer aus dem Süden standen rund 11.000 dänischen Verteidigern gegenüber – nach nicht einmal einer Viertelstunde hatten die preußische Infanterie die ersten der bereits 1849 im Rahmen der drei Jahre dauernden sogenannten Schleswig-Holsteinischen Erhebung zwischen dänischen und deutschen Truppen umkämpften Schanzen eingenommen. „Etwa 700 dänische Soldaten sind an diesem Tag gefallen“, sagt René Rasmussen. „Das sind weniger, als lange vermutet wurde. Und doch immer noch viel zu viele Menschenleben“, so der Historiker weiter. Auf deutscher Seite lag die Zahl weit unter 300.
Wie das Gefühl von Belagerung und Kampf gewesen sein muss, können wir im wenig später im nahen „Historiecenter Dybbøl Banke 1864“ nachempfinden. Am originalen Schauplatz der schweren dänischen Niederlage gegen die überlegenen Truppen der verbündeten Preußen und Österreicher wird die Geschichte wieder lebendig. Nachbauten von Gefechtsständen, Schanzen, Unterkünften oder Poststelle und vor allem die regelmäßig stattfindenden Führungen mit Darstellern in historischen Uniformen vermitteln authentische Eindrücke der entscheidenden Tage in einem Frühjahr, das im dänischen Gedächtnis bis heute eine zentrale Rolle spielt. „Wie echt diese Form von lebendiger Geschichte sein kann, ist ja immer fraglich“, geht René Rasmussen auf vorsichtige Distanz zu dieser Form der Wissensvermittlung. Andererseits könnten Living History und Reanactment gerade bei Kindern und interessierten Jugendlichen Neugier wecken.
Blick nach Norden
Unser Geschichtsguide Rasmussen hält sich lieber an die Fakten: Die dänischen Soldaten mussten die Düppeler Schanzen rund um die Mühle aufgeben und sich auf die Insel Als zurückziehen. Der Krieg dauerte noch einige Monate, doch der Frieden von Wien besiegelte eine Tatsache, die das dänisch-deutsche Grenzland für Jahrzehnte prägte: Dänemark musste im Friedensvertrag von Wien, der im Oktober 1864 unterzeichnet wurde, die Herzogtümer Schleswig, Holstein sowie Sachsen-Lauenburg an Preußen und Österreich abtreten. „Die neue Grenze verlief nun auf 68 Kilometern südlich von Ribe über den Fluss Kongeåen bis hinüber nach Christiansfeld und zum Kleinen Belt“, so Rasmussen, der sich als Kurator am Museum Sønderjylland im Schloss von Sønderborg in einer aktuellen Ausstellung mit jener Zeit auseinandergesetzt hat. Die wichtigsten Folgen: Durch den Verlust der südlichen Regionen war der verbliebende Teil des nordischen Königreichs plötzlich ein Nationalstaat mit einer rein dänischsprachiger Bevölkerung. Der Blick richtete sich plötzlich nach innen – „hvad udad tabes, skal indad vindes“ hieß es ab 1872, auf Deutsch: „Was außen verloren wurde, müssen wir im Innern gewinnen“. Die dänische Bevölkerung orientierte sich nun weniger nach Süden als nach Norden und Westen.
Auch für die deutsche Seite des Grenzlandes war das Jahr 1864 von epochaler Bedeutung. Denn während der Krieg Dänemark zu einem kleine(ere)n Land machte, war er ein großer Schritt zur Gründung des deutschen Kaiserreichs – mit dänischsprechender und -gesinnter Bevölkerung im Grenzland seines Nordens. Vierundfünfzig, teils unruhige Jahre und einen Weltkrieg später wird die dänisch-deutsche Frage wieder zum Politikum. „Dänemark war im Krieg nicht beteiligt“, sagt René Rasmussen, „denn das ist die dänische Lehre aus 1864: Wir sind neutral und halten uns aus Kriegshandlungen raus. Auch gegen Deutschland. Dänen führen keine Kriege.“ Nach der deutschen Niederlage forderte der zur dänischen Minderheit in Südschleswig gehörende Politiker Hans Peter Hanssen am 17. November 1918 in einer in Dänemark unvergessenen Rede vom Balkon des Versammlungshauses Folkehjem in der deutsch Apenrade genannten Stadt Aabenraa erstmals offen, dass eine „Genforening“, also Wiedervereinigung der vor einer Generation getrennten Landesteile möglich sein müsse. Die Menschen müssten selbst entscheiden können, wohin sie gehören, so die Forderung der „Apenrader Resolution“. Möglich machte dies 1919 der Versailler Vertrag, der eine Volksabstimmung in den nördlichen Gebieten Schleswigs vorsah – ganz so, wie es Dänemark wünschte.
Der König reitet über die Grenze
Abgestimmt wurde nach intensiven Wahlkämpfen, von denen die zweisprachigen Wahlplakate noch beredte Zeugen sind, rund um das Herzensthema Zugehörigkeit, Sprache und Heimat in Nordschleswig (Zone 1) etwa zwischen Haderselv, Tønder und Sønderborg am 10. Februar 1920. In Mittelschleswig bzw. dem heutigen Südschleswig (Zone 2) mit Teilen von Flensburg, Sylt, Amrum, Föhr und angrenzenden Landesteilen am 14. März 1920. „Das Ergebnis fiel nicht anders aus als erwartet“, so René Rasmussen, der im Museum Sønderjylland mehrere sehenswerte Ausstellungen zum dänisch-deutschen Grenzland konzipiert hat. „In Nordschleswig stimmten fast 75 Prozent für die Zugehörigkeit zu Dänemark. Im Süden war es genau umgekehrt – hier wollten 80 Prozent Deutsche bleiben.“ Schon wenige Wochen erhielt Dänemark rund die Hälfte von Schleswig zurck und der noch heute gültige Grenzverlauf war ein Fakt: Am 5. Mai ziehen dänische Truppen und Grenzpolizisten wieder in Nordschleswig ein. Bald darauf galt die dänische Währung. Ende Mai folgen Grenzkontrollen und Passpflicht. Und am 15. Juni übernimmt Dänemark die Verwaltung seiner neuen alten Landesteile – der offizielle „Genforeningsdag“, der Tag der Wiedervereinigung. Symbolische Kraft haben noch heute der Ritt von König Christian X. über die bisherige Grenze bei Kolding, festgehalten in zeitgenössischen Gemälden. Und besonders der Besuch des Regenten aus Als und an der Düppeler Mühle am 13. Juli, wo bereits zwei Tage zuvor eine Wiedervereingungsfeier stattgefunden hatte.
Hundert Jahre später gelten Volksabstimmung, Grenzsetzung und die toleranten Regelungen für die Minderheiten beiderseits der Grenze sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit international als vorbildlich. Bei einem Besuch südlich der Grenze in Flensburg und Kiel im Herbst letzten Jahre erinnerte Margrethe II. auch an die demokratische Grenzziehung von 1920. Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten habe darüber entscheiden können, wo die Grenze liegen soll, so die Königin „Es wurde ein ernster, für viele schwieriger, aber historischer Prozess.“ Denn das Ergebnis scheine eine gute und dauerhafte Lösung zu sein. „2020 können wir den 100. Jahrestag für die demokratisch festgelegte Grenze feiern.“
Regionales bewahren
Damals wie heute sei nicht die Frage von Geburt oder Nationalität das entscheidende Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer der beiden Minderheiten, so René Rasmussen, der mit seiner Familie selbst im grenznahen Tønder lebt. „Sich als Deutscher in Dänemark zu fühlen oder als Däne in Deutschland ist eine Entscheidungssache, ja eine Einstellung und Empfindung – eine Wahlmöglichkeit. Das ist die Pointe und der große Unterschied zu anderen Minderheiten.“ Heute seien auch die Probleme hüben wie drüben ähnlich, so der zweisprachige Rasmussen, der akzentfrei Deutsch spricht: „Beide haben ähnliche Schwierigkeiten mit Kopenhagen bzw. Berlin. Beide kämpfen um Geld und Nachwuchs. Vor allem aber sind beide heute Freunde statt Feinde.“ Was das Regionale definiert? Rasmussen überlegt nur kurz: „Meist sind es Sportvereine, Bibliotheken und die Identität.“ Doch die Definition des Anderen werde zunehmend schwieriger, so der Familienvater: „Was ist das Südjütländische, das Sønderjyske? Oft ist es nur noch Folklore wie die bekannte Südjütländische Kaffeetafel, das Sønderjyske Kagebord, oder unsere Würstchen, also Pølser.“ Besonderheiten wie der Dialekt verlören sich zusehends. Die Zweisprachigkeit sei zwar zum Beispiel noch in den Doppelnamen von Städten wie Tonder – Tønder, Apenrade – Aabenraa oder Sønderborg – Sonderburg zu erkennen. Aber zweisprachige Ortsschilder etwa gebe es nicht. Ein Vorstoß dazu sei in Hadersleben bzw. Haderslev bzw. „Harsle“, wie die Einwohner sagen, erst vor wenigen Jahren gescheitert. Auch die Zweisprachigkeit verschwindet: „Deutsch ist an dänischen Grundschulen, den Folkeskoler, nur von der fünften bis zur neunten Klasse obligatorisch. Wo angeboten, kann stattdessen Französisch gewählt werden. Viele Schüler wie meine Tochter beispielsweise wählen Deutsch viel eher ab als früher“, bedauert Rasmussen, der mit deutschem Fernsehen und Krimiserien groß wurde. „Zwei Sprachen gut zu sprechen bietet aber den Zugang zu zwei Welten – das ist ein Vorteil, gerade hier in der grenznahen Region.“
Urlauber in Südjütland erleben geschichtsträchtige Stätten mit dänischen-deutschem Bezug denn auch oft erst beim zweiten Hinsehen. Wenn überhaupt. Denn zwischen Als im Osten, dem offenen Marschland zwischen Tønder und Skærbæk und dem Unesco-Welterbe Wattenmeer an der Nordsee sind Meer und Natur die großen Attraktionen. Und die alten Hafenstädte wie Haderslev oder Aabenraa mit ihren Altstädten gern die malerische Kulisse für Bummel und Shopping. Dabei sei es schon paradox, schließt Rasmussen: „Wir dachten, das unsere Geschichte mit einer offenen Grenze, mit Schengen und mit freiem Grenzhandel endet. Und jetzt? Hundert Jahre nach der Wiedervereinigung hat Dänemark einen Wildschweinzaun errichtet. Und es werden periodische Grenzkontrollen durchgeführt.“
Weitere Informationen
Tipps und Infos zu Reisen in die dänische Region Südjütland bzw. Sønderjylland gibt es auf www.visitsonderjylland.de.
Das 100. Jubiläumsjahr der Volksabstimmungen und der Dänisch „Genforening“ genannten Wiedervereinigung mit Nordschleswig wird das ganze Jahr über mit 12 Leuchtturmprojekten mit mehr als 100 Veranstaltungen, Konzerten, Festen, Ausstellungen, Theateraufführungen, Debatten etc. grenzüberschreitend als „Kulturelles Freundschaftsjahr“ gefeiert. Offizieller Auftakt in Dänemark ist eine Gala im Königlichen Theater in Kopenhagen am 10. Januar 2020 mit Teilnahme von Königin Margrethe II. Die Regentin und andere Mitglieder des Königshauses werden auch an den Höhepunkten des Festjahres vom 9.–12. Juli in den sieben südjütländischen Kommunen teilnehmen – genau 100 Jahre nach dem symbolischen Ritt Christian X. über die bis heute bestehende neue Grenze. Sportlich geht es beim Royal Run zu, wenn Kronprinz Frederik am 1. Juni gemeinsam mit BürgerInnen in der Region läuft.
Weitere geplante Projekte: Das VinterJazz-Festival „Kraut Remixed“ in mehreren dänischen Städten (6.–29.2.), die Ausstellung „Always together – mostly happy“ in Hamburg und Aarhus mit Werken junger dänischer und deutscher Künstler (1.5.–30.9.). Entlang der alten Grenze von 1864–1920 entsteht ein 33 km langer Wanderweg (Einweihnung 21.6.). Der „Genforeningsbus“ des Museums Sønderjylland fährt vom 10.1.–11.7. mit Unterrichtsmaterial durch Nord- und Südschleswig. Musik- und Chorfestival auf dem Festplatz Skamlingsbanken bei Kolding mit u.a. Musica Ficta, Opera på grænsen und dem Mädchenchor Haderslev (6. Juni). Volksfest in Aabenraa mit Einweihung des renovierten Folkehjems, vom dem H.P. Hanssen 1918 die Wiedervereinigung forderte (30. Mai und 10. Juli). Kunstfestival „Sønderborg Spejlinger 2020“ mit u.a. sieben Kunstwerken im öffentlichen Raum. Offizieller Höhepunkt des Jubiläumsjahres ist das Volksfest bei Dybbøl Banke vom 9.–12. Juli.
Alle Termine findet Ihr auf der Jubiläumswebseite genforeningen2020.dk/deutsch/ sowie www.ddkultur2020.de und www.visitdenmark.de/freundschaftsjahr2020.