PORTRÄT Hamburg (cs). Gut gelaunt kommt Peter Ostendorf jeden Tag um zehn Uhr in seine Praxis im Hamburger Nordwesten. Und wenn man den Arzt so von Behandlungszimmer zu Behandlungszimmer durch die langen Gänge der Poliklinik laufen sieht, muss man sagen: auch voller Tatendrang. Dabei verdient der gelernte Internist mit seinem Enthusiasmus kein Geld. Und eigentlich könnte der ehemaliger Chefarzt ebenso gut auch zuhause entspannt ein Buch lesen oder im warmen Süden seine Frezeit genießen. Denn mit 86 Jahren ist der gebürtige Westfale längst im besten Pensionsalter. Doch das Alter ist für den langjährigen Professor am katholischen Marienkrankenhaus in Hamburg überhaupt kein Grund, kürzer zu treten: „Ich habe mich immer an das gehalten, was ich meinen Patienten rate: Nehmen Sie sich etwas vor, wenn die Rente naht. Starten Sie ein neues Projekt, seien Sie aktiv und bleiben Sie interessiert.“ Und was den zugewandten Arzt noch mehr antreibt: „Ich wollte immer etwas von dem Glück zurückgeben, das mir das Leben geschenkt hat.“
Von Innerer Medizin über HNO bis zum Kinderarzt sind alle Fachärzte vor Ort
Darum war der Familienmensch Ostendorf nach seiner Karriere als Chefarzt der Inneren Medizin ab 2004 Leiter des Präventivzentrums am Marienkrankenhaus. Doch als er dort nach rund zehn Jahren 2013
mit Mitte Siebzig ausschied, stellte sich dem Arzt aus Leidenschaft erneut die Sinnfrage. „Schon damals fiel mir die große Lücke bei der Versorgung von Menschen auf, die nicht krankenversichert
sind“, erinnert sich Ostendorf. Schon in seiner Privatpraxis am Krankenhaus seien in den Nullerjahren rund zehn Prozent der Patienten gar nicht krankenversichert gewesen. Behandelt habe er sie
dennoch. Denn zwar sei die Unterstützung Betroffener in der Politik oder unter Juristen teils fraglich und umstritten. Aber, so Ostendorf: „Es gibt mehr als Gesetze und starre Regelungen,
beispielsweise Moral.“ Das war die Motiviation, vor genau zehn Jahren die „Praxis ohne Grenzen“ in der Elbmetropole zu gründen. Waren es anfangs am Standort in Hamburg-Horn nur wenige
Kerndisziplinen wie hausärztliche Versorgung oder Innere Medizin, sind im schlichten Gelbklinkergebäude in Eidelstedt heute nahezu alle medizinischen Fakultäten vertreten – wie in einem
richtigen Krankenhaus: Innere Medizin, Gynäkologie, Augen- und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Zahnmedizin, Chirurgie und Orthopädie und sogar Kinderärzte sind vertreten. Darüber hinaus gibt es eine
sozialdienstliche Beratung, auch mit Dolmetscher, rund um das deutsche Gesundheitssystem. Insgesamt sind in der „Praxis ohne Grenzen“ etwa 55 Ärztinnen und Ärzte – bis auf eine Augenärztin alle
im „Unruhe“stand – und 25 Krankenpfleger sowie Medizinstudenten von der Universitätsklinik Eppendorf plus einige Sekretärinnen im Einsatz. Ehrenamtlich, denn die Praxis ist ein Verein, der sich
ausschließlich aus Spenden finanziert. Ostendorf: „Außer bei psychologischen Problemen erhält bei uns jeder Rat und Hilfe. Meiner Meinung nach sogar mehr als bei niedergelassenen Ärzten, denn wir
haben meh Zeit für die oder den Einzelnen.“
Der Jahresetat der Praxis kommt allein aus Spenden
Zwischen 350.000 und 400.000 Euro kostet der Betrieb der über drei Etagen verteilten Praxis, die zum Jubiläum im Mai unter anderem Glückwünsche von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck erhielt. Das Geld fließt in Geräte auf dem Stand der Diagnosetechnik, Materialien wie Spritzen, Verbandszeug, Einmalhandschuhe etc., aber auch in Kosten für die Laboruntersuchung von Blutproben oder die Behandlung beispielsweise von Krebskranken, deren Tumor in einer Spezialklinik behandelt werden muss. „In der Regel erhalten wir nirgendwo Rabatte, sondern zahlen für unsere Patienten den üblichen Regelsatz der gesetzlichen Krankenversicherung“, unterstreicht Peter Ostendorf. Wenn die Praxis am Mittwochnachmittag geöffnet ist, wird es in der Fangdieckstraße schon vormittags im Empfangsbereich im Erdgeschoss voll. Durchschnittlich 150 Kranke, an Spitzentagen sogar mehr als 170 Patienten suchen dann in der Praxis Unterstützung. (Fotos habe ich aus Gründen der Privatsphäre nicht gemacht). Das sind oft Geflüchtete ohne Papiere und ohne geklärten Aufenthaltsstatus, viele aus Subsahara-Afrika. Aber auch Syrer oder Russen oder Migranten aus anderen Nationen. Nicht selten sind auch EU-Bürger aus Osteuropa darunter, die im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit ihr wirtschaftliches Glück in Deutschland suchten, es aber nicht fanden. Ostendorf: „Und es ist einfach so: Die, die hier leben, werden auch mal krank. Und ich finde, wir dürfen sie nicht vergessen.“ Dabei gehe es nicht um exotische Krankheiten, sondern oft um häufige Beschwerden wie Erkältungen, Bluthochdruck, Diabetes, Zahnschmerzen oder Schilddrüsenfunktionsstörungen. Schwangere zum Beispiel benötigen eine Vorsorgeuntersuchung.
Selbständige nach Insolvenz können oft die private Krankenversicherung nicht mehr zahlen
Eine zunehmende Gruppe, die die „Praxis ohne Grenzen“ aufsuchten, seien auch Deutsche ohne Krankenversicherung, weiß Praxis-Gründer Ostendorf. Das Beispiel von Heinz Hoenig machte vor wenigen
Wochen Schagzeilen, als der bekannte Schauspieler auf einer Intensivstation lag und eine dringende Herzoperation benötigte – aber nicht versichert war. „Fälle wie Hoenig sind nicht selten“, so
Peter Ostendorf. „Gerade nach Corona gibt es viele Selbständige, die privat versichert waren, dann Insolvenz anmelden mussten und plötzlich die Beiträge für die Versicherung nicht mehr zahlen
konnten.“ Die jüngsten offiziellen dazu stammen vom Statistischen Bundesamt und wruden 2019 in einem Mikrozensus erhoben: Danach sind hierzulande rund 61.000 Personen nicht krankenversichert.
Schon da waren es vor allem Selbständige. Wie andere Praktiker schätzt Ostendorf diese Zahl und damit das gesellschaftliche Problem aber viel größer ein: „Meiner Meinung nach sind sicher 500.000
Menschen nicht krankenversichert. Vielleicht auch mehr.“ Darum sei eines der wichtigsten Anliegen der „Praxis ohne Grenzen“, mithilfe der Sozialberatung Patienten in die gesetzliche Krankenkasse
(GKV) zu vermitteln.
„Wenigsten alle Kinder müssen in eine GKV“ – dafür kämpfen Ostendorf und seine Mitstreiter schon seit Jahren. „Dies kostet im Durchschnitt etwa 1000 bis 1100 Euro jährlich, ist aber gut
investiertes Geld. Gerade mit Blick auf die Zukunft“, so Ostendorf. Die Kinder hätten ja nicht beschlossen, nach Deutschland zu kommen. Aber sie müssten früh Regeluntersuchungen durchlaufen,
damit Fehlentwicklungen an Augen oder Hüfte zeitig diagnostiziert und behandelt werden. „Andernfalls kommen die Konsequenzen später. Und sie sind teurer“, so Ostendorf. Ans Aufhören denkt der
Internist aus Leidenschaft noch immer nicht. Denn er sieht, dass er seinem Ziel aus der Gründertagen der „Praxis ohne Grenzen“ kaum nähergekommen ist: „Am Anfang war das Ziel von mir und dem
ganzen Team, dass wir uns überflüssig machen möchten. Doch das sehe ich leider heute weniger kommen als vor einem Jahrzehnt.“
HINTERGRUND
Hilfe von der Förde bis zur Elbe – acht „Praxen ohne Grenzen“
Das Projekt „Praxis ohne Grenzen“ gibt es auch in Schleswig-Holstein. An insgsamt sieben Standorten können sich hilfebedürftige Menschen und solche ohne Krankenversicherung Rat und Unterstützung
holen: Flensburg, Rendsburg, Neumünster, Bad Segeberg, Husum, Preetz und Stockelsdorf. Für seine Initiative erhielt Uwe Denker mit seiner Praxis in Segeberg 2019 das Bundesverdienstkreuz.
Zwischen den Praxen in Hamburg und Schleswig-Holstein findet ein regelmäßiger Austausch statt, sagt Peter Ostendorf: „Einmal im Jahr gibt es ein Treffen, bei dem wir uns über Gelungenes und
Fortschritte ebenso austauschen wie über neue Impulse und Anregungen.“
Und hier geht's zu den "Praxen ohne Grenzen":
www.praxisohnegrenzen-hh.de (Hamburg)
www.praxisohnegrenzen.de (Schleswig-Holstein)
Stand meiner Recherche: Juni/Juli 2024. Copyright Idee, Text und Fotos: Christoph Schumann, Hamburg