Der Hamburger Gitarrist Mischa Gohlke: Stille Sounds und laute Botschaften

Der Hamburger Musiker Mischa Gohlke. Foto: Marianne Moosherr/PR
Der Hamburger Musiker Mischa Gohlke. Foto: Marianne Moosherr/PR

Christoph Schumann

 

PORTRÄT Hamburg (cs). Wenn Mischa Gohlke zur Gitarre greift und die ersten Akkorde schlägt, hört er manchmal jeden Ton. Dann aber gibt es Tage, an den der Hamburger sein eigenes Instrument und den Bass und die Drums seiner Bandmitglieder nur ganz entfernt wahrnimmt. „Vor allem der Gesang bleibt dann diffus und weit weg – für mich ist meine Musik dann eine Art Klangbrei“, beschreibt der 43-jährige die Kontraste, die der Profimusiker in Proberaum und auf der Bühne regelmäßig erlebt. Gegensätze, die für den Gitarristen und Bandleader im wahrsten Sinn des Wortes akustische Höhen und Tiefen sind. Anders hat Gohlke die Hörseite des Lebens nie kennengelernt: Der Musiker, der auch als Kultur- und Medienmanager, Dozent, Redner, Autor, Aktivitst und Inklusionsbotschafter aktiv ist, kam nahezu gehörlos zur Welt. „Das fiel erst auf, als ich nicht wie die anderen Kinder zu sprechen begann“, schildert Gohlke die ersten Jahre. Erst starke Hörgeräte schafften mit zweieinhalb Jahren Abhilfe. Gohlke entdeckte die Welt neu. „Heute höre ich dank meiner Hörapparate maximal etwa sechzig bis siebzig Prozent dessen, was Normalhörende mitbekommen“, schätzt Mischa Gohlke.

Vom Autodidakten zum Unterrichtenden für Gitarre

Dass der Musikersohn dennoch selbst den Weg in die Welt der Musik eingeschlagen hat, war alles andere als selbstverständlich. Und als Jugendlicher waren auch Gohle andere Leidenschaften näher als Instrumente und Noten. „Für mich war Sport alles“, erinnert sich Gohlke, „ich habe viel Ballsport gemacht, Fußball, Basketball und Tennis gespielt.“ Dann kamen erste Verletzungen, die den Jungen vom Training abhielten. Und fast gleichzeitig verfiel Gohlke dem Blues, den er auf CDs und LPs aus der Sammlung seines Vater, des Gitarristen und Sänger Hörbie Schmidt, entdeckte. Was folgte war der eigene Griff zur Gitarre und Tage, Wochen, Monate voller Musik: „Zwischen fünfzehn, sechzehn und achtzehn Jahren habe ich nicht selten zehn bis vierzehn Stunden mit meinem Instrument verbracht“, sagt der heutige Bandleader lebhaft. Rein autodidaktisch verbesserte er sein Spiel parallel zum Abitur auf dem Gymnasium immer mehr. Ein Musikstudium blieb ihm verwehrt: „An der Hochschule wurde ich wegen meiner Hörschädigung abgelehnt“, so Gohlke, „dabei bin ich ohne meine Hörgeräte ja fast gehörlos.“ Was Gohlke nicht daran hinderte, seine Musik zum Beruf zu machen und mit Anfang Zwanzig selbst zu unterrichten. Denn dass er seine Leidenschaft leben und weitergeben muss, spürte und wusste Mischa Gohlke schnell.

 

Geräusche und Klänge erfordern für Gohlke ein anderes Verstehen

Heute steht Gohlke regelmäßig mit dem aus Los Angeles stammenden Instrumentalisten und Sänger Rico Bowen, der schon mit Stars wie Shakira und Madonna auf Tour war, und dem chilenischen Schlagzeuger Nancho Campos (u.a. mit Tony Sheridan alias “Teacher of the Beatles” unterwegs) als Mischa Gohlke Band auf Hamburger Bühnen wie der Fabrik oder dem Downtown Bluesclub. Das Trio spielt aber auch auf Events wie der Kieler Woche oder der Hanse Sail in Rostock, dem Lübecker Bluesfestival oder im Rahmen der Special Olympics in Berline. Rund zehn Gigs kommen so im Jahr zusammen, vor Corona waren es noch bis zu sechzig. „Die Tourliste füllte sich erst langsam wieder“, ist Gohlke zuversichtlich. Das gemeinsame Spiel ist für den Gitarristen jedes Mal Erlebnis wie Herausforderung zugleich: „Geräusche und Klänge erfordern von mir ein differenziertes Verstehen“, versucht Gohlke zu beschreiben. „Für mich sind Sprache und Musik eine ganzheitliche Wahrnehmung. Eine Erfahrung, die zum einen über den Hörsinn erfolgt, aber auch über den Körper und ganz besonders erst im Kopf. Ich empfinde es als Geschenk, dass Hören nicht nur statisch ist. Hören ist für mich multisensorisch, zwischen Gehör und Körper trenne ich schon lange nicht mehr.“ Profimusiker zu sein bedeute viel Arbeit, auch Enttäuschung und Unsicherheit. Dies sei aber universell und gelte nicht nur für ihn als Musiker mit Hörbeeinträchtigung. „Wenn die Energie in der Band gut ist und man viel Musik zusammen macht, findet man immer Wege, Hürden zu überwinden. Und das betrifft nicht nur meine Höreinschränkung – alle können wir mal einen schlechten Tag oder Stress haben. Nicht jeder ist immer in Topform.“

Gemeinsam mit seiner Band fühlt sich Mischa Gohlke auf der Bühne richtig wohl. Foto: Marie Tabuena/PR
Gemeinsam mit seiner Band fühlt sich Mischa Gohlke auf der Bühne richtig wohl. Foto: Marie Tabuena/PR

Die Liebe zur Musik verbindet

Wichtiger sei, dass die Band die Liebe zur Musik verbinde. In Fall der Mischa Gohlke Band die Liebe zu Blues, Rock, Funk, Pop mit eigenen Songs und Ausflügen in „klassischen“ Rock zu Jimi Hendrix und anderen Legenden. „Dann geht es um die Resonanz zu meinen Mitmusikern“, so Gohlke. Und weniger darum, dass wirklich jeder einzelne Ton genau getroffen werden müsse. „Musik ist eine kollektive Erfahrung. Wir spüren und leben alle den Moment. Dann bin ich nur das Instrument meiner Musik.“ Gohlke braucht dazu den Raumklang, ob Clubkonzert oder Open-air-Bühne. Anders als andere Musiker spielt der Hamburger Gigs auch ohne spezielle In-ear-Kopfhörer. „Meine Hörgeräte sind von einer Spezialistin aus Wien genau auf mich angepasst. So höre und fühle ich am besten.“ In den Wintermonaten hat sich Gohlke wie oft nach La Gomera zurückgezogen. Dort hat er neue Lieder geschrieben, viele erstmals mit deutschen Texten. „Mal sehen, was daraus wird“, freut sich Gohlke, der sich zum Singer-Songwirter weiterentwickeln möchte.

 

Gohlkes Verein "Grenzen sind relativ e.V."

Wieivel Zeit ihm für die neue Karriere bleibt, hängt auch von Gohlkes Ehrenamt ab: Schon 2010 hat der von Geburt an fast taube Musiker, anfangs in Kooperation mit der „Rock & Pop Schule Kiel“ das mehrfach ausgezeichnete Pilotprojekt „Musikunterricht für Hörgeschädigte ins Leben gerufen. Rund vierzehn Millionen Menschen in Deutschland seien hörgeschädigt. „Für sie gibt es kaum Angebote, Musikunterricht zu nehmen. Das wollte ich ändern.“ Hinzu kommt der von Gohlke initiierte Verein „Grenzen sind relativ e.V.“, der mit Projekten wie Konzerten, Workshops und Talks Menschen verschiedenster Herkunft zusammenbringt und sich für eine multipolare, offene Gesellschaft einsetzt. Bis zu siebzig und mehr Stunden pro Woche opfert der Musiker der Vereinsarbeit. „Demokratie muss Zugänge für alle Menschen schaffen, ganz gleich woher man kommt und welchen sozialen oder famliären Hintergrund man hat.“ Wichtig sei, Intoleranz durch Gemeinsamkeit zu überwinden. „Wir können alle auf Augenhöhe von- und miteinander lernen.“

 

„Wir alle haben Licht und Schatten“

Dies ist auch der Kern von Gohlkes Anliegen als Inklusionsbotschafter. Auch wenn der Musiker das Wort Inklusion nicht gern hört. „Ich bin Mischa. Ich bin ein Mensch wie alle anderen auch“, skizziert Gohlke seine Botschaft. Diskriminierung habe er persönlich noch nicht erlebt. „Wir haben alle Licht und Schatten, sind mal stark, mal schwach. Und voller Widersprüche.“ Inklusion setze seiner Meinung nach zu sehr auf die Integration von Menschen mit formal anerkannter Behinderung. Gohlke: „Letztlich haben wir doch alle eine Art von Behinderung: Ob körperlich, mental, sozial, emotional, empathisch, finanziell oder strukturell. Dialektisch gedacht, haben wir alle das Begrenzte ebenso wie das Grenzenlose in uns.“ Darüber hinaus gebe es zahlreiche gesellschaftliche und politische Hindernisse, ja Behinderungen in Bereichen wie Bildung, Kultur, Arbeit, Zugang zu Lebensmitteln, Gesundheit oder Wohnen. Immer gehe es dabei auch um die Verteilung von Geld, Macht und Einfluss. „Inklusion muss am Ende aber die Umsetzung der universellen Menschenrechte bedeuten“, wünscht sich Gohlke. Nur so sei eine komplexe, multipolare Gesellschaft denkbar. „Zu Ende gedacht kollidiert gelebte Inklusion aber leider immer wieder mit unserem neoliberalen Gesellschaftsmodell.“ Darum ärgert sich Gohlke als Inklusionsbotschafter auch über die Tendenz zu immer mehr und immer kleineren Communities: „Je kleinere Gruppen wir bilden, mit denen wir uns dann identifizieren, desto weiter kommen wir weg vom inklusiven Gedanken. Wir spalten statt zu verbinden.“

 

 

Idee, Recherche und Text: Christoph Schumann, 2024. Stand: Frühsommer 2024