Von Christoph Schumann
REPORTAGE Hamburg (cs). Wenn die Glocken von Sankt Michaelis läuten, beginnt für viele ein Ritual: Das Läuten der Hamburger Hauptkirche ist der traditionelle Auftakt zu einer der traditionellsten Radiosendungen des NDR – dem „Gruß an Bord“ an Heiligabend. Genau siebzig Jahre ist es her, dass die Kultsendung zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, mit der Familien und Freunde Seeleute auf allen Weltmeeren grüßen lassen. Und so über tausende Kilomter hinweg auf eine ganz besondere Art Nähe und Zusammenhalt herstellen konnten und können. Als „Gruß an Bord“ am Heiligen Abend 1953 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, geschah dies noch über Norddeich Radio, eine Seefunkstation in Ostfriesland.
Trotz Internet beliebt wie früher
Damals wie heute senden Ehefrauen und -männer, Kinder und andere Angehörige, Freunde oder Kollegen und Bekannte persönliche Botschaften über das Radio – die anfangs ein- und jetzt dreistündige Sendung bildet eine unsichtbare Brücke zwischen den Lieben auf See oder in Häfen weltweit und ihren Angehörigen zuhause. „Der Wunsch nach einer ganz privaten Mitteilung übers Radio gehört bei vielen immer noch zu Weihnachten dazu“, sagt Ocke Bandixen im Gespräch mit unserer Zeitung. „Auch in Zeiten von Handy, Internet oder Satellitentelefon, die ja eine ständige Erreichbarkeit selbst in den entlegensten Winkel der Erde erlauben, hat ›Gruß an Bord‹ nichts von seiner Bedeutung verloren“, freut sich der Moderator, der die individuellen Weihnachtsbotschaften gemeinsam mit seinen NDR-Kollegen Birgit Langhammer, Britta von Lucke und Andreas Kuhnt übermittelt. Damit alle Besatzungen an Bord die zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Uhr auf NDR Info ausgestrahlte Sendung empfangen können, mietet der Sender sogar eigens Kurzwellen-Frequenzen an. Auch in diesem Jahr wieder. „Gruß an Bord“ wird an zwei Adventssonntagen zuvor im Kulturspeicher in Leer sowie in der Seemannsmission „Duckdalben“ im Hamburger Hafen mit vielen Gästen aufgezeichnet.
„Die Grundidee ist gleich geblieben, das Konzept haben wir über die Jahre modernisiert“, betont Ocke Bandixen, der den „Gruß“ seit zehn Jahren moderiert. „Wir sprechen mit den Hörern, die Grüße und Weihnachtswünsche übermitteln möchten, reden mit ihnen und erfahren so manchmal ganz intime, persönliche, manchmal auch dramatische, trauriger oder lustige Geschichten auf ihrem und dem Leben der Männer, Frauen, Freunde oder Kinder auf See. Ich finde, es ist ein Geschenk, dass sich die Menschen uns derart vertrauen und anvertrauen. Nicht selten ist es rührend, denn gerade Feiertage sind ja immer eine Zeit der Einsamkeit und Nachdenklichkeit.“ Darum sei der „Gruß an Bord“ ungebrochen auch in Haushalten weit ab der norddeutschen Küsten beliebt, die selbst gar keine Beziehung zur maritimen Welt hätten. So entstünde an Weihnachten ein unsichtbares Band zwischen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen, die im Alltag gar nichts miteinander zu tun haben, so Bandixen, der selbst aus Schleswig-Holstein von der Nordseeküste stammt.
„Ein maritimes Potpourri mit einigen Grüßen“ stand am Anfang
Anlässlich des fünfundzwanzigsten Jubiläums von „Gruß an Bord“ erinnerte sich Hermann Rockmann, langjähriger Moderator der Anfangsjahre, an die ersten Ausstrahlungen. Zunächst habe die Sendung „ein bisschen mit Fernweh und Weihnachten“ zu tun gehabt und sei „ein maritimes Potpourri mit einigen zufälligen Grüßen an Seeleute in aller Welt“ gewesen. Aus der sich dann allmählich der „Gruß an Bord“ in seiner heutigen Form entwickelt habe. Schon in den frühen Jahren sei aber schnell klar gewesen, dass eine Stunde von 19.15 bis 20.15 Uhr niemals ausreichte, um alle Grußwünsche zu übermitteln. Die Grüße, so Rockmann, reichten „vom sachlichene Postkartengruß bis zur intimen Familiengeschichte bis zum Familienroman, bis zur Collage“. So wurde freudig verkündet, dass ein Baby seinen ersten Zahn bekommen habe oder „dass der Hund das Paket, das von irgendwo aus der Welt geschickt wurde, richtig erkannt hat“. Und dann gab es in der Frühzeit nicht selten auch noch Verwicklungen, die nur mit viel Sensibilität umgangen werden konnten: „Manchmal wird die Redaktion aber auch vor komplizierte Fragen gestellt“, so Rockmann in einem historischen NDR-Mitschnitt zum Fünfundzwanzigsten, „beispielsweise wurde einmal ein Schiffsoffizier von fünf oder sechs Namen gegrüßt. Nun wussten wir nicht, waren es Urahnen, Großmutter, Mutter und Kind, Frau oder Braut – oder waren es Seemannsbräute? Soll ja vorkommen, und um nun einen Konflikt zwischen den Adressaten zu vermeiden haben wir uns sozusagen in eine salvatorische Klausel gerettet, indem wir sagten, der Erste Offizier B.G. wird gegrüßt von all seinen Lieben daheim.“ Da der Weltkrieg noch nicht lang zurücklag, gelang es dem „Gruß an Bord“ auch, einige Vermisstenfälle zu klären und verschollene Angehörige wiederzufinden.
Rund 80 Grüße gehen am Sendetag hinaus in die Welt
Heute werden an Heiligabend rund achtzig Grüße, oft in ausführlichen Gesprächen, im Lauf des Abends gesendet. „Und es wird nie langweilig“, unterstreicht der 1970 geborene Bandixen, „diese Geschichte und die vielen Geschichten sind noch lange nicht zuende erzählt. Die Sendung ist weit mehr als reine Tradition.“ Und das Interesse bei Grüßenden wie Hörern sei ungebrochen. Grund dafür sei auch, dass die Seefahrt heute in vielen Teilen ganz anders aussehe, als noch vor dreißig oder vierzig Jahren, so der Moderator: „Damals waren meist Frachtchiffe unterwegs. Heute aber fahren beispielsweise auch zahlreiche Kreuzfahrtschiffe mit – teils – deutsche Besatzung. Und auch die Marine sei weit häufiger in aller Welt präsent als früher. Ohnehin habe ich der „Gruß an Bord“ zu einer internationalen Sendung weiterentwickelt: „Wir grüßen auch Seeleute aus Polen, von den Philippen und anderen Ländern, die auf Schiffen mit deutscher Flagge fahren. Und noch viele andere mehr.“ Darum sei auch nicht daran gedacht, dass ebenso bewährte wie erfolgreiche Konzept zu ändern, so Bandixen: „Schließlich ist unsere Sendung ein Stück Zuhause für Seeleute.“
Auch der Reederverband hält fest zur Tradition
Auch die Vorsitzende des Verbandes Deutscher Reeder, Gaby Bornheim, betont, wie wichtig es ist, an der Tradition festzuhalten: „›Gruß an Bord‹ hat Tradition, ja, ist Tradition und ganz bestimmt kein Anachronismus. Auch wenn es heute dank zunehmender Digitalisierung möglich ist, dass Seeleute an Bord mit ihren Angehörigen daheim nahezu jederzeit sprechen können. Es geht um die Verbindung unserer Seeleute zu ihren Lieben daheim, die die Trennung gerade zum Fest der Liebe so schmerzlich spüren. Die gefühlvollen, melancholischen, aber auch fröhlichen Botschaften der Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Kinder unserer Seeleute spiegeln das Leben wider, das weitergeht, zuhause und an Bord.“ Diese Verbindung zwischen Land und See brauche es 2023 noch genauso wie vor siebzig Jahren.
HINTERGRUND
Zu hören ist „Gruß an Bord“an Heiligabend 2024 von 19.00 bis 22.00 Uhr auf NDR Info, auf NDR Info Spezial, über die NDR Radio App und über Kurzwelle. Weitere Informationen zum Empfang auf www.ndr.de