Reportage von Christoph Schumann
Oksbøl, Dänemark (cs). Es ist früh dunkel an diesem Wintertag an der dänischen Westküste. Weit vor sechzehn Uhr liegt der kleine Friedhof bereits im Halbdunkel, die langen Reihen gleicher Kreuze verschwinden im feuchten Dämmerlicht. „Auguste Lagies, 1867–1945“ steht auf einem Grabstein unweit des Zugangs – die Vertriebene ist damit eine von fast 1800 hier in Oksbøl bestatteten Flüchtlingen. Gelebt haben Lagies und rund 35.000 andere Deutsche nur wenige Schritte entfernt im Flygtningelejr Oksbøl, wie das rund vier Quadratkilometer große Auffanglager am Rand der Kleinstadt auf Dänisch heißt. Damit war es das größte seiner Art im nordischen Königreich, in das etwa 250.000 deutsche Flüchtlinge gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kamen. Eine Zeitlang war es die fünftgrößte Stadt Dänemarks.
Tatsächlich war das Lager Oksøl im Wald Aal Plantage eine kleine Stadt in bzw. bei der Stadt Oksøl. Mit eigenem Stadtrat, Theater, Kino und einer Schule, die halfen, die entwurzelten Menschen etwas Sicherheit im Alltag und Ablenkung zu bieten. Denn die Zukunft der Geflüchteten, die hinter Stacheldraht ausharren mussten, war ebenso unsicher wie offen. Doch die überwiegend Frauen und Kinder machten das Beste aus ihrer Lage. So diente das „Theater Oxbøl“ als Kino und Theater. Hier fanden 800 Zuschauer Platz, es gab drei oder vier Vorstellungen am Tag. Vom einstigen Lager und seinen zahlreichen Gebäuden stehen heute nur noch zwei flache Backsteingebäude, die einst das Krankenhaus beherbergten. Seit vergangenem Jahr bilden die beiden renovierten Flügel gemeinsam mit einem neuen Eingangsbereich den Mittelpunkt von „Flugt – Dänemaks Flüchtlingsmuseum“.
„Wir sind nicht noch ein Weltkriegsmuseum“, unterstreicht Majken Graver, die beim Verbund der Museen in Varde für Besucher und Vermittlung zuständig ist. „Flugt ist vielmehr das erste Museum weltweit, das sich ausschließlich dem Thema Flucht und Geflüchtete widmet.“ Entsprechend ist die Dauerausstellung im Hauptgebäude auch zweigeteilt: Im ersten Teil „Flüchtlinge zu allen Zeiten“ erfahren Besucher alles über die großen Flüchtlingsströme des 20. und 21. Jahrhunderts, beginnend etwa nach dem Zweiten Weltkrieg durch die großen Krisen, ob in Afrika und Europa über die Kriege in Vietnam und Afghanistan bis hin nach Syrien. Multimedial erleben Besucher einzelne Schicksale, kommen Einzelschicksalen und menschlichen Katastrophen näher. Einige Menschen, die eine teils lebensgefährliche Flucht auf sich genommen haben, erhalten so ein Gesicht und eine Geschichte. Im nächsten Raum werden Besucher vor eine ganz persönliche Frage gestellt: Was müsste passieren, ehe man selbst flüchten würde? Wer möchte, kann seine eigenen Gefühle an der Wand „Dine Tanker - Ihre Gedanken“ in eigene Worte fassen. So wie jener Besucher: „Wir leben in einem unermesslichen Wohlstand, außer dass wir oft vergessen, was für ein Glück wir haben …“ Majken Graver: „Wir haben mit vielen Flüchtlingen, auch in unserem aktuellen Themenschwerpunkt zum Krieg in der Ukraine, über ihre Gründe zur Flucht geredet. Über ihre Gedanken und Sorgen.“ Und über die Aufnahme im Ankunftsland und die ersten, oft schweren Schritte bei der Integration.
Der zweite Museumbereich widmet sich den Nachkriegsjahren und der Zeit des Lagers Oksbøl. So kann können Flugt-Besucher in Theaterstühlen Platz nehmen und Filmsequenzen von Theateraufführungen und dem Leben im Lager entdecken. Oder sich anhand selbst gemachter Puppen und anderem Spielzeug ein Bild vom Alltag in Oksbøl machen. Ein zeitgenössisches Modell gibt Einblicke in die Wohnbaracken und ihre Mehrbettzimmer. „Was mich selbst immer wieder erstaunt: Mit eigenem Wasser- und Abwassersystem war das Flüchtlingslager Oksbøl in der Nachkriegsjahren auf einem hygienischen Stand, den selbst viele dänische Dörfer damals nicht hatten“, weiß Majken Graver. Kleines Manko beim Museumsrundgang: Alle Ausstellungsbereiche, -stücke und -schicksale erschließen sich nur mit dem kostenlosen Audioguide – wer nicht lange mit Kopfhörer unterwegs sein mag, muss auf wesentliche Informationen verzichten.
HINTERGRUND: Flugt – Dänemarks Flüchtlingsmuseum
In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1945 und 1949/50 nahm Dänemark rund 250.000 Flüchtlinge auf. Die meisten von ihnen waren zum Kriegsende deutsche Zivilisten bzw. Vertriebene, die vor der Roten Armee flüchteten. Das größte dänische Flüchtlingslager befand sich im Waldgebiet Aal Plantage im Ort Oksbøl unweit der Nordseeküste bei Varde. In den rund vier Jahren seines Bestehens beherbergte es etwa 35.000 deutsche Geflüchtete, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Anschließend wurden Gelände jahrzehntelang anderweitig genutzt, u.a. als Jugendherberge. Seit Mitte 2022 dokumentiert das Museum „Flugt – Dänemarks Flüchtlingsmuseum“ in den historischen Gebäuden sowie einem neuen Ausstellungs- und Konferenzbereich aus der Feder des renommierten Kopenhagener Architekturbüros Bjarke Ingels Group (BIG) die Geschichte des Lagers Oksbøl sowie internationaler Flüchtlingswellen der vergangenen hundert Jahre.
Adresse, Öffnungszeiten, Eintritt:
Flugt – Dänemarks Flüchtlingsmuseum, Præstegårdsvej 21, 6840 Oksbøl, www.flugtmuseum.dk, geöffnet Di–So 10–17 Uhr, Eintritt Erw. 160 DKK, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei.