Rüdesheim. Die Verlockung ist groß, unsere Wanderwoche bequem mit der Seilbahn zu beginnen. Vom Startpunkt Rüdesheim nämlich führt seit mehr als 50 Jahren ein Sessellift hinauf zum imposanten Niederwalddenkmal hoch über dem weltbekannten Ausflugsort mit der schmalen Drosselgasse, an die sich heute wie einst Weinstube an Weinstube reiht. Doch fahren gilt nicht. Wer den Rheinsteig erwandern will, sollte mit den ersten Schritten gleich an der Unterkunft beginnen. So geht es zunächst durch Weinfelder hinauf zur Abtei St. Hildegard. Im Kloster mit seinem dunklen Kirchraum leben auch heute noch Benediktinneren nach den Regeln ihrer unvergessenen Ordensleiterin Hildegard von Bingen.
Wenige Minuten später erreicht unsere kleine Gruppe aus jugendlicher Dauer- und erfahrener Kurzzeit-Begleitung das imposante Niederwalddenkmal. Dass die imposante Germania an ein Stück kriegerische Vergangenheit und den Frankreich-Feldzug 1870/71 erinnert, ist beim weiten Blick auf den Rheingau im Süden und die Nahemündung in Bingen auf der anderen Rheinseite schnell vergessen. Dann tauchen wir ein in den Wald. Dem Rheinsteig zu folgen ist einfach: Im Abstand von höchsten 100 Metern weist eine blau-weiße Markierung auf den richtigen Verlauf hin. „Damit geben wir allen Wanderern ein sicheres Gefühl, so dass man kilometerweit auch ohne Karte oder GPS-Gerät gehen kann“, sagt Jens Niemeyer. Der 48-Jährige muss es wissen: Der Familienvater und begeisterte Freizeitwanderer ist einer von rund 20 Wegepaten, die sich zwei Mal im Jahr um „ihr“ bis zu 30 Kilometer langes Teilstück der als Premiumwanderweg ausgezeichneten Fernroute kümmern. „Wir Wegepaten erneuern verblasste Logos, achten auf Hangrutsche, umgefallene Bäume oder zugewachsene Aussichtspunkte“, so der hauptberufliche Marketingmanager. Dass uns schon in den ersten Stunden immer wieder junge Wanderer begegnen, wundert Niemeyer nicht. Er weiß: „Wandern, auch Fernwandern ist immer noch Trend bei Jüngeren.“ Das bestätigt auch der Deutsche Alpenverein: ein Viertel seiner rund 1,2 Millionen Mitglieder ist jünger als 26 Jahre – Tendenz steigend. Mein 19-jähriger Neffe Stephan, der die Semesterferien zum Aktivsein nutzt, ist also keine Ausnahme.
Vorbei an der 1744 schon als Burgruine errichteten Turm Rossel und dem Jagdschloss Niederwald geht es hinunter nach Assmannshausen mit seinen historischen Fachwerkhäusern. Auf den folgenden 15 Kilometern nach Lorch wandelt die Landschaft ihr Bild: Während wir Hänge hinauf- und hinabwandern, verliert sich die Weite des Rheins zwischen schroffen, teils steilen Felshängen. Auf rund 65 Kilometern verengt sich das vor 400 Millionen Jahren entstandene Rheintal spektakulär. Die Kultur- und Naturlandschaft – als Oberes Mittelrheintal Unesco-Welterbe – wird zum Nadelöhr durchs Schiefergebirge. Seit Jahrhunderten passieren Händler und Kaufleute, Könige und Kaiser, Römer und Franken, heute zum Leidwesen der Anwohner aber auch hunderte rumpelnde Güterzüge täglich das dramatisch-schöne Tal.
Wir folgen dem Rheinsteig über alte Wirtschaftswege durch Jahrzehnte lang verwilderte Wein- und Obstberge, vorbei an schon ab 1100 angelegten Trockenmauern aus Schiefer, aufgelassenen Steinbrücken, knorrigen Eichen und Buchen, herausfordernden Senken wie das Bodenbachtal zu spektakulären Aussichtspunkte wie dem sogenannten Dreiburgenblick. Wenige Kilometer vor Lorch liegen hier die Festungen Rheinstein, Reichenstein und Sooneck im Blick – drei von insgesamt 60 hier. Die ständig wechselnden Panoramen gehören fest zur Faszination am Rheinsteig: „Während man wandert, sieht man alle Details wie die Schlösser, Burgen und Städtchen nach wenigen Metern schon aus ganz anderer Perspektiv. Erst scheint vieles weit entfernt, plötzlich steht man davor“, freut sich mein junger Mit-Wanderer beim Abstieg ins kleine Lorch am Rhein, unserem Tagesziel.
Gestärkt nach einer ruhigen Nacht und reichhaltigem Frühstück im Hotel Altes Schulhaus – der früheren Grundschule von Lorch mit ihrem Bauhausstil, der so gar nicht zum sonstigen Fachwerk- und Gründerzeitstil passen will –, erklimmen wir auf dem Rheinsteig gleich die nächste Anhöhe. Kurz darauf folgt die Ruine Nollig, während auf der jenseitigen Rheinseite die Burgen Heimbach und Fürstenberg aufragen. Schon geht es durch das Retzbachtal wieder hinunter auf Flusshöhe nach Lorchhausen, ehe sich der Rheinsteig zur Aussicht Wirbeley hinaufwindet – drüben liegt mit Bacharach eine der schönsten Ansichten der Region. Auf dem Weg nach Kaub wird der Rheinsteig zum Weinweg: Reben und Steillagen begleiten uns bis zur Unterkunft – passend gelegen im kleinen Weingut Bahles. Winzer Peter Bahles führt in vierter Generation das traditionsreiche Haus, das Blick auf die Pfalzgrafenstein hat – die 1326/27 erbaute Burg ist die einzige erhaltene Wächterin im Rhein. Wie mühsam die Arbeit auf den steilen Schieferböden ist, schildert der 42-jährige Winzer bei einer spontanen Weinprobe. Auf 3,8 Hektar baut Bahles fast ausschließlich Weißwein an: „Riesling können wir am besten“, weiß der bescheidene Weinbauer, der gemeinsam mit rund 20 anderen Enthusiasten verwilderte Weinhänge gerodet hat und den Ruf der Traube als wertvolles Kulturgut mit seiner „Riesling Charta“ stärkt. Leitbild der Charta-Weine ist Handarbeit vom Rebschnitt bis zu Ernte, der natürlichen Reifung und Abfüllung. So entstehen die individuellen Profilweine Meisterstück, Felsenspiel und Handstreich – „für täglichen Genuss oder besondere Momente“, so Bahles. Der perfekte Abschluss eines weiteren Wandertages.
Am nächsten Tag folgt zum Abschluss ein echter Höhepunkt: die Loreley. Doch vor den berühmtesten Felsen am Rhein hat der Rheinsteig auch heute Anstrengungen gesetzt. Zunächst geht es deshalb hinauf nach Dörscheid zum offenen Rheinplateau, wo der Pfad ganz ungewohnt durch Felder und Wiesen verläuft. Es folgen Wälder, die Alte Burg und das wildromantische Urbachtal. Bis zur Loreley, die sich 132 Meter über dem Rhein erhebt, geht es erneut durch Weinhänge. Deutschlands wohl berühmtesten Felsen, der seinen Mythos dem „Märchen aus uralten Zeiten“ und nicht zuletzt Heinrich Heines Ballade von der Schiffer verführenden Nixe Loreley („ley“ heißt Felsen) verdankt, teilen wir uns dann mit einigen Dutzend amerikanischen Reisenden. Nicht romantisch, aber doch erhebend und besonders dramatisch, denn an der Loreley durchläuft der Rhein mit seine nur etwa 140 Meter breite schmalste Stelle. Bei Heine endet wenige Kilometer später auch unsere Tour – an der Büste des Dichters im Herzen von St. Goarshausen trennen sich die Wege von Wanderern und Rheinsteig mit einem Versprechen: Wir kommen wieder.
Wanderinformationen Rheinsteig
Der Rheinsteig verläuft rechtsrheinisch auf insgesamt 320 km zwischen Wiesbaden in Hessen und Bonn in Nordrhein-Westfalen und ist durchgehend markiert. In 21 Etappen zwischen mit 8 bis 22 km Länge lässt sich der mit dem Deutschen Wandersiegel als Premiumwanderweg ausgezeichnete Fernweg perfekt in Tagestouren zurücklegen. Der Rheinsteig ist kein reiner Höhenweg, im Gegenteil: Als sportlich anspruchsvolle Strecke führt der Weg über viele Steigungen und teils schmale Felswege (70 Prozent der Weg sind naturbelassen) immer wieder vom Rhein bis hinauf auf max. 330 m ü.d.M. – faszinierende Weitblicke bis in die Pfalz, nach Frankfurt M. oder in den Hunsrück sind garantiert.
Individuelle Wanderungen inkl. Übernachtung und Gepäcktransport sind buchbar über: Romantischer Rhein Tourismus GmbH, An der Königsbach 8, 56075 Koblenz, Tel. 0261/973847-0, www.romantischer-rhein.de.
Auf der Webseite des Rheinsteigs sind unter www.rheinsteig.de Karten und Informationen zu den einzelnen Etappen kostenlos als Pdf downloadbar.
Übernachtungstipps für die genannten Orte:
- Rüdesheim: Rheinhotel Rudesheim, Geisenheimer Straße 25 – 27, 65385 Rüdesheim am Rhein, Tel. 06722 - 9030, www.rheinhotel-ruedesheim.de
- Lorch: Hotel Im Schulhaus, Schwalbacher Straße 41, 65391 Lorch am Rhein, Tel. 06726 - 807160, www.hotel-im-schulhaus.com
- Kaub: Hotel Weingut Bahles, Weinhaus Zur Pfalz, Bahnstraße 10, 56349 Kaub, Tel. 06774 - 258, www.weingut-bahles.de
- St. Goarshausen: Hotel Christian, Im Sonnern 1, 56346 St. Goarshausen-Heide, Tel. 06771 - 7220, www.hotelchristian.de
Stand: Frühjahr 2017